Hamburg. Der Krieg in der Ukraine, die Pandemie und das Verhältnis zu China schüren Ängste. Doch es gibt auch Grund zum Optimismus.

Bei der Lektüre der täglichen Nachrichten kann man schwermütig werden – der Krieg in der Ukraine nimmt an Schärfe eher noch zu, China entwickelt sich vom Partner zum Gegner, und aus der Wirtschaft folgt Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft.

Zugleich aber stellt sich die Frage, ob nicht viele dieser schlechten Nachrichten inzwischen in den Prognosen und Erwartungen eingepreist sind – immerhin hat der Deutsche Aktienindex (DAX) in den vergangenen Tagen sechs Prozent an Wert zugelegt und sich von seinem Tiefpunkt unterhalb der Marke von 12.000 Punkten entfernt.

Konzerte, Reisen, Fußballspiele: Hohe Nachfrage

Und auch sonst gibt es immer wieder Meldungen, die nicht in die depressive Stimmung passen: Der Deutsche Reiseverband (DRV) berichtet, dass Reisebüros und Veranstalter in der Sommersaison das Umsatzniveau der Vor-Corona-Zeit 2019 fast erreicht haben. Und der bevorstehende Reisewinter soll im Vergleich zur Wintersaison vor einem Jahr sogar deutlich besser werden. Auch bei den Kfz-Zulassungen deutet sich deutschland- wie europaweit eine Trendwende an: Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Neuzulassungen im August wie im September.

Ob in Fußballstadien oder Rock-Arenen, die Nachfrage übersteigt oft das Angebot, die Konzertkarten der Rockband Rammstein waren innerhalb weniger Minuten europaweit vergriffen. Den Besuch der Zweitligisten HSV und St. Pauli begeisterte die Fans in den Städten der diesjährigen Pokalfinalisten Leipzig und Freiburg derart, dass die Arena in Sachsen mit 45.000 Zuschauern fast und das Stadion in Freiburg mit 33.500 Fans ganz ausverkauft war.

"Wirtschaftliche Lage wird sich verschlechtern"

Auch auf dem Arbeitsmarkt ist die neue Krise noch nicht angekommen – statt um ihren Job sorgen sich die meisten Deutschen derzeit eher um ihre Work-Life-Balance – sie müssen trotz der steigenden Preise nicht mehr arbeiten, sondern wollen weniger arbeiten, wie unlängst eine Umfrage ergab.

All diese Beobachtungen passen nicht so recht in eine Stimmungslage, wonach das Land am Rande der Abbruchkante entlangtorkelt. Alles also nur halb so schlimm? „Die Lage ist derzeit zwar besser als die Stimmung. Aber voraussichtlich wird sich die Wirtschaftslage in den kommenden sechs Monaten zunächst erheblich verschlechtern und sich damit der Stimmung anpassen“, sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank.

„Angesichts der hohen Energiepreise haben die Verbraucher weniger Geld für andere Dinge. Einige Unternehmen fahren die Produktion herunter, da sie sich die hohen Energierechnungen nicht leisten können. Die Auftragspolster sind zwar oft noch gut gefüllt. Aber Neuauf­träge brechen ein.“

Gasspeicher in Europa sind gut gefüllt

Und doch sieht er mehrere Dinge, die etwas Mut machen: So sind die Gasspeicher europaweit bestens gefüllt. Inzwischen liegen die EU-Erdgasvorräte bei 92,4 Prozent der Kapazität, in Deutschland beträgt der Füllstand der Speicher sogar 96 Prozent. „Von der Seite sind wir für den Winter besser gerüstet als erhofft. Wahrscheinlich werden wir in diesem Winter Gas nicht zwangsweise rationieren müssen“, sagt Schmieding.

Auch die Bundesnetzagentur schaut zuversichtlich auf den Winter: Nur wenn der Winter sehr kalt wird, droht im Februar eine Mangellage, Daten deuten zugleich aber darauf hin, dass der Gasverbrauch in der EU bereits um zehn Prozent unter den Durchschnitt von 2017–2021 gesunken ist.

Gaspreise beginnen zu sinken

Das lässt sich auch in den Prognosen der Berenberg-Analysten ablesen: Der Produktionsverlust von der Spitze zum Tiefpunkt könnte nun mit einem Minus von 1,7 Prozent etwas weniger dramatisch ausfallen als die minus zwei Prozent, die die Bankanalysten zuvor befürchtet hatten. Damit scheint zumindest das permanente Herunterschrauben der Prognosen, die wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, vorbei zu sein.

Holer Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank.
Holer Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank. © Klaus Bodig / HA

Ebenfalls positiv: Die Preise für Gas beginnen zu sinken, auch weil sich die Staaten beim Befüllen der Gasspeicher nicht länger gegenseitig überbieten.

Zentrales Thema: Versorgungsicherheit in Deutschland

Zudem hilft jetzt schon die warme Witterung in Europa. So ist der Preis zuletzt auf nur noch gut 110 Euro pro MWh gesunken, die Notierungen an den Terminmärkten von ca. 150 Euro pro MWh bis Frühjahr 2024 liegen inzwischen deutlich unter den Preisen, die noch vor sechs Wochen erwartet worden waren. Aber auch wenn Notierungen wie 340 Euro im August damit Geschichte sind, von den alten Preisen bei rund 20 Euro pro MWh sind wir immer noch weit entfernt. Wahrscheinlich werden diese Preise nie mehr erreicht.

Auch die Politik scheint den Ernst der Lage nun realistischer einzuschätzen. Die Entscheidung des Kanzlers Olaf Scholz, sich auf die Richtlinienkompetenz zu berufen und alle drei Kernkraftwerke bis Mitte April weiterlaufen zu lassen, zeigt, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hat. Damit könnte der Strompreis um acht bis zwölf Prozent sinken.

Und möglicherweise ist diese Verlängerung auch nur die Vertagung der Grundsatzfrage, wie Deutschland Versorgungssicherheit, günstige Strompreise und Klimaschutz unter einen Hut bringen kann – vielleicht diskutiert die Republik diese Frage in einem halben Jahr ganz anders?

Neue Möglichkeiten durch Krisen?

Thomas Straubhaar, Ökonom an der Universität Hamburg, fordert mehr Ehrlichkeit von der Politik: „Die Lage ist ernst, und genau diese Botschaft müsste die Politik transportieren, das wäre der erste Schritt zur Besserung. Es muss klargemacht werden, dass wir nach Jahrzehnten mit Frieden und Globalisierung – und damit den bisher besten Jahren der Menschheit – nun in einer Phase der Transformation stecken.“

Diese mache eine Anpassung unserer Lebensweise, unseres Verhaltens und bisherigen Konsums erforderlich. „Das verängstigt viele, die möchten, dass alles so bleibt, wie es mal war“, sagt Straubhaar. „Aber es eröffnet viele neue Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle, Innovation und Ideen!“

„Das ist ähnlich wie bei der Pandemie"

Darin sieht auch Schmieding Potenzial: „Die deutsche Industrie hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie ausgesprochen anpassungsfähig ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Mit schnelleren Genehmigungsverfahren geht Deutschland bei den Rahmenbedingungen etwas in die richtige Richtung“, sagt er. Er hofft auf eine Erholung nach der kalten Jahreszeit: „Wenn wir den Winter überstanden haben, kann es einen großen Seufzer der Erleichterung geben. Die Konjunktur kann dann schnell wieder anspringen. Dies dürfte eine V-förmige Rezession werden. Tief runter, dann aber auch rasch wieder hoch, wenn der Schock nachlässt.“

Der Berenberg-Banker verweist auf die Erholung nach Corona: „Das ist ähnlich wie bei der Pandemie, bei der sich die Wirtschaft ja auch überraschend schnell wieder erholt hat.“

"Weltmarktführern in Energieeffizienz"

Schmieding setzt auf die Kreativität deutscher Unternehmer: „Gerade der Mittelstand ist eine Supersuchmaschine. Die vielen Unternehmen sind ständig auf der Suche nach der neuen Marktnische. Wo genau sie die finden werden, lässt sich nicht vorhersagen.“

Wahrscheinlich sei, dass ein Teil der besonders energieintensiven Industrie in die USA abwandern werde, möglicherweise würden zwei bis drei Prozent der deutschen Industrieprozesse im Laufe der kommenden Jahre abwandern. „Vor allem als Folge des Frackingverbotes bei uns wird Gas in den USA auf lange Zeit weniger teuer sein als bei uns“, sagt Schmieding.

„Stattdessen werden wir gezwungenermaßen zu Weltmarkführern in Energieeffizienz. Diese Innovationen werden sich im Laufe der Zeit gewinnbringend auf dem Weltmarkt verkaufen lassen.“

„Es bedarf einer klaren politischen Botschaft"

Ähnlich sieht es Straubhaar: Er verweist auf die vielen Stärken des Standortes: Der durchschnittliche Bildungsstand der Bevölkerung sei hoch, die Eigenverantwortung zwar verbesserungsfähig, aber im internationalen Vergleich gut. Er lobt vor allem das immense „Know-how von Prozess- und Produktinnovation im Bereich der Fertigung von Gütern“, die politische Stabilität und die Rechtsstaatlichkeit. „Es ist eben nicht alles schlecht, selbst wenn vieles nicht so ist, wie es sein sollte.“

Seine Conclusio ist ein Appell an die Politik: „Es bedarf einer klaren politischen Botschaft, wohin die Reise gehen soll – und dann des Mutes, diese Message politisch umzusetzen“, sagt Straubhaar. Er fordert konkret „mehr smartes, grünes und cooles Wachstum, mehr Innovation und weniger Verharrung, nicht Tankrabatte, sondern Energiegeld. Und ich bleibe dabei, dass wir beim Steuersystem beginnen sollten!“

Krise als Entscheidung und Wendepunkt?

Vielleicht sollten sich Land und Politik an die eigentliche Bedeutung des Wortes „Krise“ erinnern. Der griechische Begriff beschreibt Unsicherheit und eine bedenkliche Lage, aber eben auch Entscheidung und Wendepunkt.