Hamburg. Die Füllstände der Gasspeicher steigen, die Preise beginnen zu sinken. Doch aus dem Schneider ist Europa noch lange nicht.

Wie kommen wir durch den Winter, so lautet die bange Frage, die derzeit allüberall gestellt wird. In wachsender Sorge decken sich die Deutschen mit Holz und Heizlüftern ein, sie kaufen neue Duschköpfe oder schrauben an ihren Heizungen: Jeder Schritt, der Gas spart, ist ein verständlicher Schritt. Aber möglicherweise ist die entscheidende Frage gar nicht mehr, ob das Gas kommt – sondern eher, zu welchem Preis es kommt. Die gute Nachricht: Auch in der Krise hat der Markt gezeigt, was er kann. Er leistet eine Menge, wenn der Preis stimmt. Die schlechte Nachricht: Der Preis stimmt schon lange nicht mehr.

Und das betrifft nicht nur das Gas, sondern eben auch den Strom, den er im Schlepptau mit nach oben zieht. Nach dem „Merit-Order-Prinzip“ bildet sich der Strompreis an den Börsen nach der Reihenfolge, in der Kraftwerke einspringen. Am Ende bestimmt das teuerste Kraftwerk, das noch benötigt wird, um die Nachfrage zu decken, den Preis. Das waren zuletzt Gaskraftwerke. Die Investoren stellen sich offenbar auf das Schlimmste ein – an den Terminmärkten spielen die Preise verrückt.

Energiekrise: Preise gingen zuletzt zurück

Eine Megawattstunde, die im 1. Quartal 2023 (also gegen Ende des Winters) geliefert werden muss, kostete Ende vergangener Woche in Deutschland weit mehr als 1000 Euro. Immerhin: Zuletzt gingen die Preise wieder deutlich zurück -- nicht nur beim Strom, auch beim Gas. Hier beruhigten die Füllstände der Gasspeicher die Gemüter: Das Oktober-Speicherziel von 85 Prozent dürfte schon erreicht worden sein.

Dabei muss man wissen: Nur noch elf Prozent des Gases, das Deutschland importiert, stammt aus Russland. Ein anderer Teil der Wahrheit: Deutschland hat in der Angst vor einem gaslosen Winter Gas zu fast jedem Preis zur Befüllung der Speicher eingekauft und damit selbst die Preise in die Höhe getrieben. Nun sind die Speicher voll, aber deren Nutzung wird extrem teuer, für private wie gewerbliche Verbraucher.

„Die Gasspeicher füllen sich so gut"

„Ja, wir kommen wahrscheinlich mit einem allerdings tiefblauen Auge durch den Winter“, sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt bei Berenberg. „Die Gasspeicher füllen sich so gut und die Industrie schränkt ihren Gasverbrauch so ein, dass wir vermutlich Gas nicht zwangsweise rationieren müssen.“ Aber Schmieding sagt auch: „Die Preise für Strom und Gas sind inzwischen so hoch, dass dies im Winter zu einer spürbaren Rezession führen wird. Manche Unternehmen werden weniger herstellen, weil sie es sich bei diesen Kosten nicht mehr leisten können.“

Der Blick auf die Gaspreise zeigt das Dilemma: Indem die Russen am Gashahn drehen, haben sie inzwischen eine extreme Macht über die Konjunktur in der Bundesrepublik. So sind die Gaspreise in Europa zuletzt in atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe geschossen: Die Preise pro Megawattstunde liegen derzeit bei deutlich über 200 Euro, zwischenzeitlich gar bei über 300 Euro – vor Corona pendelten sie um 20 Euro. In Asien, ebenfalls abhängig von Flüssiggasimporten, bewegt sich der Preis ebenfalls nach oben – liegt aber bei unter 200 Euro.

In den USA hat sich der Preis kaum erhöht

Ganz anders ist die Lage in den USA. Dort hat sich wegen der umfangreichen Schiefergasförderung der Preis kaum erhöht und pendelt zwischen 20 und 30 Euro. Sollte es dabei bleiben, sind die mittelfristigen Folgen dramatisch: Ein Exodus der energieintensiven Unternehmen in die USA ließe sich kaum aufhalten. Die oft an die Wand gemalte Deindustrialisierung Europas bliebe nicht nur ein Schreckensszenario, sondern wäre Realität.

„Sofern Deutschland nicht endlich seinen durch keinen wissenschaftlichen Grund zu rechtfertigenden Widerstand gegen Fracking aufgibt, werden wir für viele Jahre Fracking-Gas teuer und mit viel CO2 Ausstoß aus den USA zu uns verschiffen müssen“, kritisiert Schmieding. „Das belastet das Weltklima und unsere Industrie, die deshalb für lange Zeit höhere Energiekosten haben wird als die Konkurrenz in den USA.“ Auch er warnt: „Einige energieintensive Unternehmen werden in die USA abwandern müssen.“

Hamburger Kupferhersteller Aurubis warnt vor Folgen

Dass es sich dabei nicht um theoretische Debatten handelt, wurde in dieser Woche deutlich. Da ließ der Hamburger Kupferhersteller Aurubis wissen: „Die aktuell stark gestiegenen Preise für Strom und Gas ermöglichen über die Zeit keine Produktion von Kupfer und Metallen in Europa, die dringend für die Energiewende benötigt werden“, teilte ein Unternehmenssprecher auf Abendblatt-Anfrage mit.

Zuvor hatte die Branchenorganisation Kupferverband in einer Stellungnahme zur Gasumlage gewarnt, die deutsche Kupferindustrie rechne „mit Einschränkungen der Produktion“. Ein Blick auf die Aktien von Kupferhütten und Stahlerzeugern zeigt, was die Börse für die Zukunft erwartet: Salzgitter wird mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 1,5, Thyssen von 2,8 gehandelt. Normal sind Kennzahlen von rund zehn. Auch Aurubis notiert derzeit mit weniger als dem Sechsfachen des Jahresgewinns. Das sind Alarmzeichen.

Steigende Preise hemmen Kaufkraft

Anders als in früheren Wirtschaftskrisen würde die Abwanderung wichtiger Grundstoffindustrien die Erholung danach ausbremsen – eine Industrie, die weg ist, ist weg. Und das ist nur ein Teil des Problems, denn die steigenden Strom- und Gaspreise saugen wie ein Schwamm Kaufkraft auf. Eine grobe Faustregel veranschaulicht die Auswirkungen. Wenn die Verbraucher in der Eurozone den Preisanstieg allein stemmen müssten, würde ein anhaltender Anstieg des Gaspreises um 100 Euro pro MWh das Preisniveau um ca. fünf Prozentpunkte erhöhen, bei Preisen von 200 Euro sind es schon sieben bis acht Prozentpunkte.

Dieses Geld wird für andere Ausgaben fehlen, in den Restaurants, Geschäften, Autohäusern und Feriengebieten. Noch ist es nicht so weit, weil Europa viel Gas im Rahmen billigerer Festpreisverträge importiert und nicht alle Kostensteigerungen weitergegeben werden. Außerdem tragen Unternehmen einen Teil der Kostensteigerungen, ohne ihn weiterzugeben. Zudem werden die Regierungen mehr oder weniger stark eingreifen, um heute einen Teil der Kosten von den Verbrauchern auf die Steuerzahler von morgen zu verlagern.

Problem könnte eskalieren

Drehen nun die Russen nach den Wartungsarbeiten weiter an der Gasschraube, eskaliert das Problem. Die Volkswirte der Berenberg Bank haben drei Szenarien durchgerechnet: Wenn Russland nach der Wartung wie zuvor 20 Prozent der Kapazität durchleitet, dürfte der Füllstand der Gasspeicher bis zum Ende des Winters deutlich über der Sicherheitsgrenze von 20 Prozent pendeln. Diese ist erforderlich, um auch ungewöhnliche Kälteperioden zu bewältigen. Bleibt Nord Stream 1 ganz geschlossen, wird es eng. Sollten die Russen zudem noch die anderen europäischen Pipelines zudrehen, wird „die Situation äußerst herausfordernd“.

Er versucht dem Westen Angst zu machen: Kreml-Chef Wladimir Putin hinterlässt sein Autogramm auf einer Gas-Pipeline.
Er versucht dem Westen Angst zu machen: Kreml-Chef Wladimir Putin hinterlässt sein Autogramm auf einer Gas-Pipeline. © AFP/Getty Images

In diesem Fall rechnen Volkswirte mit erzwungenen Kürzungen der Gaslieferungen an Teile der Industrie. Dann droht Deutschland eine heftige Rezession: Das Bruttoinlandsprodukt würde in diesem Fall im ersten Quartal nicht nur um 2,3 Prozent zurückgehen, sondern um 4,5 Prozent einbrechen. Auch die Eurozone müsste sich auf ein Minus von drei statt nur 1,6 Prozent einstellen.

Putin wird die Erpressung wohl fortführen

Keiner weiß, was Putin tun wird. Klar ist: Stoppt er das Gas, gibt er ein Machtmittel aus der Hand. Deshalb erwarten viele Experten, dass die Erpressung mit der Energie vorerst weitergeht. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte am Dienstag versichert, dass Russland ein zuverlässiger Lieferant und gewillt sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Gasmarktexperte Heiko Lohmann vom Energieinformationsdienst Energate sagt, dass Putin zumindest in den kommenden Tagen den Preis bestimmen wird. „Die spannende Frage ist, was nach den drei Tagen Wartung passieren wird.“

Er geht davon aus, dass die Preise wieder nach oben gehen, wenn die Lieferungen nicht wiederaufgenommen werden. Umgekehrt sieht er noch „Luft nach unten“, sollten die Lieferungen nach der Wartung fortgesetzt werden. Ein Hoffnungsschimmer: Auch Russland ist auf das Geschäft angewiesen. Von den 720 Milliarden Kubikmetern, die Russland fördert, gehen gut 200 Milliarden Kubikmeter in den Export, davon 130 Milliarden Kubikmeter in den EU-Raum. Eine Umleitung der Gasströme nach Asien ist so schnell kaum möglich, da das Pipelinesystem gen Süden und Osten kaum entwickelt ist. Stöpselt Gazprom Europa ab, müsste es seine Förderkapazitäten also stilllegen.

Befüllen der Speicher wird teurer werden

Darin liegt auch eine Hoffnung für den übernächsten Winter. Denn das Problem könnte sich anderenfalls im Winter 2023/24 noch zuspitzen. Das Befüllen der Speicher dürfte im kommenden Jahr teurer werden. Zwar wird dann die Versorgung mit Flüssiggas wohl besser funktionieren, allerdings zu noch höheren Preisen. Gut möglich, dass die Europäer dann ärmere Staaten als Kunden verdrängen. Zudem dürften die steigenden Preise den Bedarf weiter senken – auch weil energieintensive Unternehmen aufgeben werden oder die Produktion verlagern.

Schmieding fordert die Politik auf, schnell vier Dinge auf den Weg zu bringen: „Erstens eine Zeitenwende-Rede, in der die Regierung den Ernst der Lage beschreibt, der sich aus den hohen Energiepreisen ergibt. Zweitens alle ökologisch und ökonomisch vertretbaren Energiequellen nutzen.“ Die Atomkraftwerke etwa dürften erst dann abgeschaltet werden, wenn die Lage am Energiemarkt sich wieder entspannt hat. Und Fracking sollte unvoreingenommen geprüft und das Stromnetz sowie die Windkraft beschleunigt ausgebaut werden. „Wie kann Berlin am Atomausstieg festhalten, aber gleichzeitig darauf hoffen, dass unsere Nachbarn uns im Notfall aus der selbstverschuldeten Klemme helfen?“

„Hier zählt jeder Kubikmeter"

Insider aus der Energiewirtschaft sind seit Langem fassungslos über den Atomkurs der Bundesregierung: „Die Behauptung, die Laufzeitverlängerung der letzten AKW bringe nichts, übersieht, dass ein Weiterbetrieb pro Atomkraftwerk jeweils acht bis zehn Prozent des Kraftwerkgases einsparen kann“, sagt ein langjähriger Manager.

„Hier zählt jeder Kubikmeter. Atomkraft kann die Lage entspannen helfen.“ Robert Habeck rechnet anders: Der grüne Vizekanzler sprach bei einem Bürgerdialog am Tag der offenen Tür der Bundesregierung von lediglich zwei Prozent, die Atomkraftwerke einsparen – bezogen auf den gesamten Gasverbrauch. Allerdings hatten die groß angekündigten Maßnahmen zum verpflichtenden Energiesparen einen ähnlichen Effekt – rund zwei Prozent.

Energiekrise: Es geht auch um die soziale Lage im Land

Ohnehin geht es nicht nur um Gaspreise, sondern auch die soziale Lage im Land. Viele Bürger werden sich die exorbitanten Steigerungen der Strom- und Gaspreise nicht mehr leisten können. Deshalb empfiehlt Schmieding drittens großzügige Hilfen für die, die es nötig haben. „Hilfen mit der Gießkanne können wir uns angesichts knapper Mittel nicht leisten.“ Sein letzter Ratschlag klingt für einen Ökonomen überraschend: „Die Politik muss erkennen, dass in einer Energiekrise die Schuldenbremse nicht die oberste Leitschnur der Haushaltspolitik sein sollte. Wir müssen den Bedürftigen helfen – aber eben auch nur ihnen.“