Hamburg. Viele Unternehmen in der Stadt fürchten mehr Bürokratie und „Rückschritt“. In anderen Firmen ist die Erfassung längst Standard.
Ein aktuelles Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bringt in vielen Firmen neue Regelungen für die Beschäftigten mit sich. Nach dem Richterspruch sind Betriebe in Deutschland dazu verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen. „Zeiterfassung ist auch Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung,“ begründete BAG-Präsidentin Inken Gallner das Urteil. In den vergangenen Jahren gab es eher den Trend zu Vertrauensarbeitszeit, mobilem Arbeiten und Homeoffice mit wenig Kontrolle.
Die Reaktionen aus der Hamburger Wirtschaft auf die Entscheidung sind sehr unterschiedlich. Kritik kommt von André Trepoll, Geschäftsführer des IVH-Industrieverbands Hamburg: „In der Industrie gibt es in vielen Bereichen bereits jetzt eine Arbeitszeiterfassung genauso wie Vertrauensarbeitszeiten. Aber alles, was in dieser Energiekrise die Industrie und Wirtschaft zusätzlich belastet, sollte jetzt vermieden werden.“
Arbeitszeiterfassung wäre "ein Rückschritt"
Negativ sieht das Urteil auch der Groß- und Außenhandelsverband AGA: „Immer mehr Unternehmen setzen auf orts- und zeitflexibles Arbeiten. Sie haben damit – wo möglich und sinnvoll – gute Erfahrungen in der Pandemie gemacht. Zudem ist eine flexible Arbeitszeitgestaltung für viele Beschäftigte mittlerweile ein ausschlaggebendes Argument bei der Arbeitgeberwahl“, beschreibt AGA-Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch die Lage in den 3500 im AGA organisierten Unternehmen.
„Eine starre Zeiterfassung wäre ein Rückschritt und stellt die Flexibilität in Form von Vertrauensarbeitszeit, Homeoffice oder mobilem Arbeiten infrage.“ Hinzu komme, dass eine digitale Stechuhr zu noch mehr bürokratischem Aufwand führen würde.
Arbeitszeiterfassung bei Otto längst Standard
Lob kommt indes von den Gewerkschaften: Silke Kettner von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hält die Entscheidung für „überfällig. „Es ist nur recht und billig, wenn die tatsächlich geleistete Arbeitszeit aufgezeichnet und damit unzweifelhaft festgestellt wird“, betont die Regionalchefin der NGG. Gerade im Gastgewerbe oder in Bäckereien würden die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit häufig verschwimmen, weil oft über die bezahlte Arbeitszeit
hinaus gearbeitet werde.
Bei den Unternehmen in Hamburg trifft das Urteil zum Teil auf eine Organisation, die bisher schon eine Erfassung der Arbeitszeit vorsieht. Wie beim Handelshaus Otto. „Zeiterfassung ist kein Hexenwerk, nicht von gestern und ganz sicher auch für die Zukunft der Arbeit ein wichtiger Aspekt“, findet Firmensprecher Martin Frommhold. Bei Otto sei die Arbeitszeiterfassung seit vielen Jahren Standard.
Arbeitszeiterfassung "nicht zeitgemäß"
„Auch wenn unsere „Stechuhr“ heute nicht mehr analog, sondern längst digital ist“, ergänzte Frommhold. „Wer ins Büro kommt, dessen Arbeitszeit wird automatisch minutengenau an den Eingängen erfasst. Wer mobil arbeitet, trägt die geleistete Arbeitszeit eigenverantwortlich über ein Online-Tool ein.“ Überstunden würden automatisch auf einem Gleitzeitkonto erfasst und könnten beispielsweise als Freizeitausgleich genommen werden.
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Bei der New Work SE, Mutter des Online-Netzwerkes Xing, gibt es bisher die Vertrauensarbeitszeit ohne eine Zeiterfassung. „Wir halten eine Pflicht für alle Firmen und alle Branchen ohne Differenzierung für nicht zeitgemäß“, sagte die Vorstandschefin Petra von Strombeck.