Hamburg. Urteil des Bundesarbeitsgerichts könnte „Tsunami“ auslösen, fürchten Experten – “Erdrutsch für die häusliche Pflege“.

Rita Timm ist froh, dass sie noch zu Hause leben kann, in dem Reihenhaus, in dem sie die vergangenen Jahrzehnte verbracht hat. Nachdem ihr Mann vor einigen Monaten starb, ist die vertraute Umgebung tröstlich, sie gibt ihr Halt auch in den Momenten, die dunkel sind. Doch nach einer Rücken-Operation ist die 83-Jährige geschwächt.

Sie braucht Unterstützung im Alltag. Einiges Wenige vermag die alte Dame noch selbst – sie kann am Rollator wenige Schritte zu Hause gehen, am Tisch sitzen und essen. Aber jemand muss für sie kochen, aufräumen, sie waschen und betreuen – und für den Fall da sein, dass sie stürzt oder sich nicht allein helfen kann.

Pflegekraft hilft der alten Dame im Haushalt

Rita Timms Tochter Nicole, die wie ihre Mutter eigentlich anders heißt, kümmert sich um sie, ist allerdings selbst berufstätig. Dass die alte Dame noch zu Hause wohnen kann, verdankt sie einer polnischen Pflegekraft, die bei ihr wohnt – eine Lösung, die viele Seniorinnen und Senioren wählen, um noch einigermaßen selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben zu können.

Tochter Nicole hatte sich an eine offizielle Vermittlungsagentur gewandt, weil sie niemanden schwarz beschäftigen möchte. Die Agentur vermittelt polnische Pflegerinnen, die jeweils für eine gewisse Zeit bleiben – mal sind es fünf Wochen, mal auch drei Monate – und dann in ihre Heimat zurückkehren. Nach einigen guten und manchen weniger guten Erfahrungen sind es nun zwei Polinnen, die sich bei der Pflege von Rita Timm jeweils über längere Zeiträume abwechseln.

Urteil hat Auswirkungen auf die Pflege in Hamburg

Dafür bekommen sie im Monat 2500 Euro plus Kost und Logis. Das heißt: Die Frauen haben ein eigenes Zimmer in dem Reihenhaus der alten Dame und essen mit ihr gemeinsam. Abends schauen sie manchmal zusammen fern. Offiziell sind die Pflegekräfte 40 Stunden in der Woche angestellt, einen Tag haben sie wöchentlich jeweils frei, so wie es Vorschrift ist. An diesen Tagen kümmert sich Nicole um ihre Mutter. An Feiertagen bekommen die beiden Pflegekräfte den doppelten Stundensatz. Die Agentur in Polen führt Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge für die Frauen ab.

Doch dieses Modell der sogenannten „Live-ins“ ist nun in Gefahr: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat vor Kurzem ein Grundsatzurteil gefällt, das nach Einschätzung von Fachleuten weitreichende Auswirkungen auf die Pflege zu Hause haben wird, auch in Hamburg. Den ausländischen Arbeitnehmern, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, stehe der gesetzliche Mindestlohn zu, urteilten die obersten deutschen Arbeitsrichter (5 AZR 505/20).

Mindestlohn auch für Bereitschaftszeiten

Und vor allem: Der Mindestlohn gelte auch für Bereitschaftszeiten, in denen die zumeist aus Osteuropa stammenden Frauen Betreuung auf Abruf leisteten. „Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten“, hatte der Vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung verkündet. Er machte deutlich, dass Bereitschaftsdienst auch darin bestehen könne, dass die Pflegehilfe im Haushalt der Senioren wohnen müsse „und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten“.

Das wegweisende Urteil fand einerseits Lob – insbesondere von den Gewerkschaften und dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste. Denn es wird aus ihrer Sicht dazu beitragen, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu beenden. Nicht selten versprächen Vermittler den hilfesuchenden Familien in Deutschland eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, meist für wenig Geld. Die Klägerin aus Bulgarien, die für den Präzedenzfall vor dem höchsten deutschen Arbeitsgericht sorgte, hatte von ihrem heimischen Arbeitgeber nach eigenen Angaben im Jahr 2015 pro Monat 950 Euro netto erhalten.

„Mindestlohn-Urteil für Pflegekräfte richtig“

Die bulgarische Pflegerin musste 24 Stunden am Tage für ihre über 90-jährige Arbeitgeberin in deren Wohnung in Berlin da sein – und das an sieben Tagen in der Woche. Selbst nachts habe die Tür zu ihrem Zimmer offenbleiben müssen, damit sie auf Rufe der Seniorin reagieren konnte, brachte sie vor Gericht vor. In ihrem Arbeitsvertrag hatten lediglich 30 Stunden wöchentlich gestanden und ein freies Wochenende.

„Mit Blick auf faire Löhne ist das Mindestlohn-Urteil für Pflegekräfte richtig“, findet Klaus Wicher, Landesvorsitzender des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Hamburg. Es zeige, wie fragil das Pflegesystem sei. „Denn das Urteil ist ein Super-GAU für die Pflegeversicherung und ein Erdrutsch für die häusliche Pflege.“

Arbeitszeit und Freizeit kaum trennbar

Auch Rita Timm dürfte das zu spüren bekommen, auch wenn ihr Fall etwas anders liegt als der, den die bulgarische Pflegekraft vor Gericht gebracht hatte. Timms Pflegerin bekommt bereits den Mindestlohn. Vor allem aber sind Arbeitszeit und Freizeit kaum scharf voneinander zu trennen.

Gegen 6.45 Uhr beginnt der Arbeitstag der polnischen Frau, dann ist Rita Timm aufgestanden und muss gewaschen werden. Die Pflegerin bereitet anschließend das Frühstück zu, die beiden essen gemeinsam. Dann muss bei Bedarf eingekauft, aufgeräumt und das Mittagessen vorbereitet werden. Nach dem Mittagessen hat die Pflegerin zwei Stunden frei.

„Ist das nun Arbeits- oder Freizeit?“

Nachmittags kocht sie Kaffee, unterhält sich mit der alten Dame, bereitet dann das Abendbrot zu – anschließend ist für sie um 19 oder 19.30 Uhr Feierabend. Doch manchmal schauen die beiden dann zusammen fern. „Ist das nun Arbeits- oder Freizeit?“, fragt Tochter Nicole Timm. Dieselbe Frage stelle sich bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Im Verlauf des Tages habe die Pflegerin immer mal wieder reichlich Zeit für sich – ist aber im Notfall erreichbar, falls Rita Timm Hilfe brauchen sollte. Abends hat die Pflegerin, wenn sie grad nicht fernsehen möchte, frei und muss die alte Dame nur um 21.45 Uhr ins Bett bringen.

Falls nachts etwas passiert, muss die 83-Jährige den Notfallknopf der Johanniter drücken. Natürlich sei die Betreuerinnen dann ein Back-up, falls sie die Hilferufe vorher höre, so Nicole Timm. Aber normalerweise könnten sie gut schlafen, weil ihre Mutter nachts keine Hilfe benötige. „Das ist ja keine 24-Stunden-Pflege, die Pflegerin hat immer zwischendurch Freizeit.“

Pflegekraft-Suche für viele Familien schwierig

Für viele Hamburger Familien ist es gar nicht so einfach, eine gute Pflegekraft zu finden. Wie viel sie verdienen, so schreiben die Vermittlungsagenturen auf ihren Internetseiten, hängt auch davon ab, wie gut sie Deutsch sprechen. Eine pflegerische Vorbildung haben die allerwenigsten, meist können sie nicht einmal einen Erste-Hilfe-Kurs vorweisen, so die Erfahrung von Nicole Timm. Beim Wechsel der Pflegekraft werden für ihre Familie noch einmal 90 Euro fällig. Auch den Corona-PCR-Test der Frau mussten die Timms selbst bezahlen. Der schien nach der Anreise der Frau in einem eng besetzten Bus allemal sinnvoll, zumal sie in Polen nicht geimpft war.

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Für die Timms ist dieses Betreuungsmodell gerade so finanzierbar. Rita Timm selbst bekommt nur eine äußerst schmale Rente, weil sie nach der Geburt ihrer Kinder aufgehört hat zu arbeiten. Die 83-Jährige erhält 545 Euro monatlich von der Pflegeversicherung, ihr ist eine Pflegestufe III zuerkannt worden. Dazu kommen die Hinterbliebenenrente, nachdem ihr Mann gestorben ist, und Ersparnisse.

„Dann müsste meine Mutter ins Heim“

Wie lange es ihr möglich ist, die insgesamt 3000 Euro im Monat – Kost und Logis eingerechnet – aufzubringen, ist eh nicht klar. Und das Urteil des Bundesarbeitsgerichts droht, das Modell vollends zum Einsturz zu bringen.

„Eine Pflegekraft 24 Stunden am Tag zu bezahlen, wäre für uns finanziell nicht möglich“, sagt Nicole Timm. „Dann müsste meine Mutter ins Heim.“ Das möchten sie und ihre Brüder aber eigentlich um jeden Preis vermeiden. Ihre Mutter, die ihr Leben lang eine tatkräftige Frau war, leide ohnehin darunter, nicht mehr alles allein zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein.

Diakonie warnt vor illegaler Beschäftigung

Und die Timms sind mit diesem Problem nicht allein: „Wir befürchten, dass das aktuelle Urteil zum Mindestlohn in der 24-Stunden-Betreuung in der Pflege gravierende Auswirkungen auf den Einsatz von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften haben wird“, heißt es vom Diakonischen Werk Hamburg. Zwar setze man sich für eine faire Entlohnung der Pflegekräfte ein, ob sie nun aus dem Ausland oder aus Deutschland stammen.

Aber: „Es ist für uns als Tarifanwender schon schwer, tarifliche Steigerungen 1:1 durch die Pflegekassen finanziert zu bekommen. Für sehr viele pflegebedürftige Geldleistungsempfänger dürfte es gar nicht möglich sein, die sich aus diesem Urteil ergebenen Kostensteigerungen finanzieren zu können. Es droht ein Ausweichen in mögliche illegale Beschäftigungsverhältnisse.“

„Das Urteil löst einen Tsunami aus"

Eine Versorgung der Pflegebedürftigen über ambulante Pflegesachleistungen werde nicht möglich sein, da eine 24-Stunden-Versorgung über die Sachleistungsbeträge der Pflegeversicherung nicht finanzierbar ist. „Hier ist aus Sicht der Diakonie der Gesetzgeber dringend gefordert, für eine adäquate finanzielle Ausstattung der Geldleistungsempfänger zu sorgen. Eine stationäre Lösung für diese Pflegebedürftigen wäre nicht sachgerecht, da diese Menschen sich ja gerade dazu entschlossen haben, im ambulanten Kontext zu bleiben.“ So wie Rita Timm eben auch.

Eugen Brysch, Vorstand bei der Deutsche Stiftung Patientenschutz, sieht die Dinge ähnlich, formuliert aber drastischer: „So nachvollziehbar die Entscheidung auch ist. Das Urteil löst einen Tsunami aus für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind.“ Nach seinen Angaben sind mindestens 100.000 ausländische Helfer offiziell in deutschen Haushalten beschäftigt. Hinzu kämen schätzungsweise 200.000 Menschen, die ohne schriftliche Vereinbarung als Betreuungskraft arbeiteten.

In Hamburg 77.000 Menschen pflegebedürftig

Auch Klaus Wicher vom Sozialverband Deutschland (SoVD) in Hamburg fürchtet „ein finanzielles Erdbeben und einen Dammbruch, der die bisher vom Staat stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzte Pflege von Angehörigen wegschwemmen wird“. Er verweist auf Zahlen: In Hamburg seien derzeit rund 77.000 Menschen pflegebedürftig.

Die Kosten für deren Pflege übernimmt anteilig die Pflegeversicherung. Ambulant versorgt durch Pflegedienste würden etwa 22.000 Menschen. Der größte Teil der Pflegebedürftigen werde zu Hause versorgt. Erst in höherem Alter wechselt ein Teil in ein Pflegeheim. Bei den 80- bis 89-Jährigen sind es etwa 30 Prozent; bei Menschen ab 90 Jahren lebt etwa jeder Zweite in einem Heim. „Hätten wir die ausländischen Pflegekräfte nicht, wäre die häusliche Pflege schon zusammengebrochen“, sagte auch Brysch von der Stiftung Patientenschutz.

Heim ist kaum eine Alternative

Wenn das Urteil das Modell der Versorgung hilfsbedürftiger Menschen durch osteuropäische Pflegekräfte zum Einsturz bringt, hätte das weitreichende Auswirkungen auch in Hamburg. Denn so viele Heimplätze, wie dann benötigt würden, gibt es gar nicht in der Stadt.

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Nach Auskunft der Sozialbehörde verfügen die rund 150 vollstationären Pflegeeinrichtungen in Hamburg über etwa 16.000 Plätze. Rund 90 Prozent dieser Plätze sind belegt. Wer soll all die alten Menschen aufnehmen, wenn sie sich die häusliche Pflege nicht mehr leisten können? Oder müssten sie sich Heime weit entfernt der Hansestadt suchen – ihr angestammtes Umfeld also vollends verlassen? Noch findet die Politik, so scheint es, keine Antworten auf das Problem.

Wicher fordert neue Pflegeversicherung

Auch Martin Sielaff, Geschäftsführer der Hamburgischen Pflegegesellschaft, findet die Situation unübersichtlich. Allerdings müssten in der Pflege eingesetzte Kräfte natürlich angemessen bezahlt werden. Vielfach gehe es den Betroffenen nach seiner Kenntnis eher um Betreuung als um Pflege im engeren Sinne. Pflegedienste könnten womöglich die benötigte professionelle Pflege der älteren Menschen zu Hause übernehmen, sagt er. Doch diese Pflegedienste seien vielfach gut ausgelastet.

Klaus Wicher vom Sozialverband fordert eine radikal neue Pflegeversicherung. Sie müsse finanziell so ausgestattet sein, dass eine häusliche Pflege rund um die Uhr bezahlbar bleibe: „Der SoVD fordert eine Pflegeversicherung, die wie eine Bürgerversicherung ausgerichtet ist und als Vollkasko-Versicherung alle Kosten trägt. In diese Pflegeversicherung zahlen alle ein, auch Beamte und Selbstständige, um sie solide und solidarisch zu finanzieren.“

Pflege könnte in Schwarzmarkt abwandern

Denkbar sei auch eine Nachtpflege, die analog zur Tagespflege Angehörige in der Ruhezeit unterstützt. „Viele Kinder, die aus ethischen Gründen ihre Eltern bei sich zu Hause betreuen, werden sich diese Form der Pflege nicht mehr leisten können, eine 24/7-Hilfe ist für sie kaum bezahlbar.“ Wicher warnt, dass die Pflege in den Schwarzmarkt abwandert. Auch andere Verbände befürchten, dass zumindest der graue Markt für Pflege wächst. Und damit wäre den zumeist osteuropäischen Pflegekräften auch nicht geholfen.