Hamburg. Viele Branchen suchen händeringend Beschäftigte, obwohl die Zahl der Menschen ohne Job groß ist. Die Erklärungen sind vielfältig.

Keine Branche hat in den vergangenen Monaten so hartnäckig auf ihren Personalmangel aufmerksam gemacht wie die Gastronomie. Trotz des Andrangs der Gäste nach Abflauen der Corona-Pandemie müssen Öffnungszeiten eingeschränkt werden, weil es an Personal fehlt. „Rezeptionistinnen, Köche, Barkeeper, Service- und Reinigungskräfte werden in der Stadt händeringend gesucht“, sagt Johann Möller von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

In der Gastronomie und Hotellerie seien 8000 Stellen nicht besetzt, sagt der Hamburger Dehoga-Vizepräsident Niklaus Kaiser von Rosenburg. Auch im Handel, in Lagern, in der Sicherheitsbranche oder der Pflege sind Helfertätigkeiten möglich. In weiteren Bereichen können Arbeitslose angelernt werden. Dennoch gibt es in der Stadt rund 78.000 Arbeitslose, Tendenz steigend. Warum können sie nicht die Personalnot lindern? Zahlt sich ein regulärer Job für Langzeitarbeitslose aus? Wie werden Langzeitarbeitslose zur Jobaufnahme motiviert? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Warum ist der Arbeitsmarkt in Hamburg zweigeteilt?
Es gibt rund 78.000 Arbeitslose in der Stadt. 24.577 von ihnen werden von der Arbeitsagentur betreut, sie bekommen in der Regel Arbeitslosengeld, das sich nach der Höhe ihres letzten Einkommens richtet. Der größere Teil der Hamburger Arbeitslosen, also 53.334, wird vom Jobcenter betreut. Statt Arbeitslosengeld erhalten sie Hartz IV – und die Betroffenen sind aber nur zum Teil (41 Prozent) schon länger als ein Jahr arbeitslos, also langzeitarbeitslos.

Ihre Zahl blieb in den vergangenen zwölf Jahren in sieben Jahren über der Marke von 50.000. Im vergangenen Jahr kamen 5850 Personen von der Arbeitsagentur ins Jobcenter. Ihnen ist es also innerhalb von einem Jahr nicht gelungen, wieder eine Beschäftigung zu finden. „Die Zahl ist ungewöhnlich hoch und eine Folge der Corona-Pandemie“, sagt eine Sprecherin der Arbeitsagentur. „Wir gehen davon aus, dass sich in diesem Jahr die Zahl der Übertritte in das Jobcenter wieder auf dem Niveau von 2020 (knapp 3000) einpendeln wird.“

Wer ist schwer vermittelbar?
Langzeitarbeitslosigkeit, fehlende Berufsausbildung und höheres Alter erschweren den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Die drei Faktoren können bei einem Jobsuchenden zusammen oder einzeln auftreten. Diese drei Problembereiche gibt es bei beiden Institutionen, nur dass Langzeitarbeitslosigkeit und fehlende Berufsausbildung im Jobcenter noch stärker ins Gewicht fallen (s. Grafik). Im Jobcenter haben fast 70 Prozent der Jobsuchenden keine Berufsausbildung, und 41 Prozent sind langzeitarbeitslos. Besonders schwer wiegt das bei jenen, die schon mehr als zwei Jahre ohne Job sind.

Das betrifft im Jobcenter rund 12.800 Personen. Bei der Arbeitsagentur sind die Langzeitarbeitslosen über 50-Jährige, die länger als zwölf Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. „Die Gruppe der älteren Arbeitslosen bei der Arbeitsagentur ist in der Regel qualifiziert und hat lange, ununterbrochene Beschäftigungszeiten hinter sich“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit. „Arbeitslos wurden sie meist durch Kündigung, einen Aufhebungsvertrag oder Insolvenz. Mit Blick auf ihre langen Versicherungszeiten sind sie nicht bereit, sofort jeden Job anzunehmen.“

Gibt es ein Vermittlungsproblem?
In den Branchen Gastronomie, Hotellerie und Logistik (s. Tabelle) gibt es wesentlich mehr Arbeitslose in diesen Bereichen als freie Stellen. 5700 Arbeitslose würden gerne im Lager helfen, aber es sind nur 335 verfügbare freie Stellen gemeldet. Ähnlich ist das Verhältnis in der Gastronomie bei Helferjobs: rund 1700 Arbeitslose auf nur 227 Jobangebote. Da liegt der Verdacht nahe, dass es die Arbeitgeber aufgegeben haben, ihre freien Stellen bei der Arbeitsagentur zu melden. Denn auf dem Branchenportal Hotel-Career werden allein für Hamburg 300 Köche und 200 Kellner gesucht.

Nach Helferjobs kann man dort allerdings nicht fahnden. Hinter vorgehaltener Hand sagen Gastronomen, die Bewerber von Arbeitsagentur und Jobcenter seien nicht geeignet. Die Stellenprofile decken sich nicht immer mit den persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten der Arbeitslosen, heißt es dazu von der Arbeitsagentur. Eine Erklärung wäre auch, dass die Arbeitslosen zwar früher in den Branchen gearbeitet haben, aber gar nicht mehr dorthin zurückkehren wollen. „Während der Pandemie haben sich viele Beschäftigte aus der Gastronomie und Hotellerie anderen Branchen zugewandt, das wirkt bis heute nach“, sagt Fock.

Gleichwohl werden in der Gastronomie wieder Arbeitsplätze aufgebaut, aber ob sie mit Arbeitslosen besetzt werden, weiß keiner. Im Januar 2022 lag das Plus der neuen Arbeitsplätze im Jahresvergleich noch bei 300, im August waren es schon 2800 – der dritte Rang im Stellenranking neuer Arbeitsplätze. Generell steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs in Hamburg seit 2010 kontinuierlich: von rund 821.000 im Jahr 2010 auf mehr als eine Million aktuell. Doch die Arbeitslosen profitieren davon weniger. In neun von zwölf Jahren blieb die Zahl der Jobsuchenden über 70.000.

Helfen Qualifizierungen?
„Es fehlt nicht an Möglichkeiten für Umschulungen und Qualifizierungen, aber die Zahl der Bewerber liegt deutlich darunter, obwohl es auch Zuschläge zum Arbeitslosengeld und eine Erfolgsprämie gibt“, sagt Fock. Von Januar bis Mai 2022 haben 3700 Personen eine berufliche Weiterbildung bei der Arbeitsagentur begonnen. Schaut man in die Liste der Fachrichtungen die gefragt waren, so hilft das den Branchen Gastronomie, Handwerk oder Handel eher nicht. Für die Weiterbildungsziele Speisenzubereitung, Handel und Klempnerei gab es keine Interessenten.

Gefragt waren Fachrichtungen wie Programmierung, Fahrzeugführung im Straßenverkehr, Büro und Objektschutz. „Manche haben traumatische Schulerfahrungen und zögern deshalb bei bestimmten Qualifizierungen, weil sie fürchten zu scheitern“, sagt Fock. „Solche Qualifizierungen müssen freiwillig sein, um erfolgreich sein zu können. Mit Druck und Sanktionen ist keinem geholfen.“ Beim Jobcenter haben bis Ende August 14.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte eine Weiterbildungsmaßnahme begonnen.

Warum sind Helferjobs unbesetzt?
„Die Arbeitsbedingungen in den genannten Branchen wie Gastronomie oder Handel stellen oft eine Herausforderung für die Bewerber dar“, sagt eine Sprecherin des Jobcenters. „Arbeitszeiten im Schichtdienst und am Wochenende sowie Bezahlung, körperliche Belastung, sprachliche Herausforderungen und fehlendes attraktives Image der Branchen sind Hemmnisse.“ Doch die Arbeitgeber zeigten sich vermehrt kooperativ und stellten sich flexibel auf die spezielle Kundengruppe ein, sofern die Motivation vorhanden sei. „Wir sprechen hier von Menschen, die individuell sehr verschieden sind, und natürlich kommt nicht jede und jeder für jede Aufgabe infrage“, so die Sprecherin.

Wie werden Langzeitarbeitslose zur Jobaufnahme motiviert?
„Es ist uns wirklich wichtig, dass wir ein Arbeitsbündnis auf Augenhöhe mit unseren Kundinnen und Kunden haben“, sagt die Sprecherin des Jobcenters. „Wir erarbeiten gemeinsam, welche Stärken und Potenziale bestehen, welche Unterstützungsangebote sinnvoll sind.“ Es gehe um eine gemeinsame Strategie, um den Betroffenen ein Ziel zu vermitteln. „Mit diesem Ansatz integrieren wir pro Jahr rund 30.000 Menschen in Arbeit und Ausbildung“, so die Sprecherin.

Gibt es noch Sanktionen?
Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg für immer weniger Sanktionen bereitet. Seit 1. Juli 2022 würden keine Sanktionen mehr bei Pflichtverletzungen wie fehlenden Eigenbemühungen oder der Weigerung, die Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung zu erfüllen und eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, verhängt, teilt das Jobcenter mit. Werden Meldeaufforderungen ignoriert, so wird das erst im wiederholten Fall sanktioniert. Die Leistungen werden dann um zehn Prozent gekürzt.

Zahlt sich ein regulärer Job noch aus?
Eine Familie mit zwei Kindern (sechs und 14 Jahre alt) ohne Arbeit würde vom Jobcenter 1495 Euro plus die Kaltmiete von maximal 938 Euro bekommen. Die Nebenkosten der Wohnung einschließlich Heizung werden zudem voll übernommen, auch bei weiter steigenden Energiepreisen. Strom muss selbst von den Regelleistungen bezahlt werden. Nimmt man für die Nebenkosten einen Durchschnittswert von 250 Euro an, so stehen der Familie insgesamt 2683 Euro zur Verfügung.

Wenn einer von beiden arbeiten gehen würde, müsste er mindestens 3500 Euro brutto verdienen, erst dann hätte die Familie gut 300 Euro mehr als mit Hartz IV. Netto blieben 2583 Euro. Addiert man das Kindergeld für zwei Kinder hinzu, kommt man auf 3021 Euro, also ein Plus von 338 Euro gegenüber den Sozialleistungen. Bei Hartz IV wird Kindergeld auf die Regelleistung angerechnet.

Interessant: Wer seit März 2020 einen Leistungsantrag beim Jobcenter gestellt hat, für den werden für sechs Monate die Kosten der Unterkunft ohne Begrenzung übernommen. Diese Regelung wird voraussichtlich auch für das geplante Bürgergeld, das Hartz IV ablösen soll, gelten. Überlegt wird bei dieser neuen staatlichen Leistung sogar, dass das Jobcenter die tatsächlichen Kosten der Unterkunft für bis zu zwei Jahre übernimmt.