Hamburg. Preise ziehen an, Sparzinsen liegen bei Null und der Staat vergibt großzügige Finanzhilfen. Das kann nicht lange gut gehen. Die Analyse.

An den Tankstellen nähern sich die Preise für einen Liter Benzin der Zwei-Euro-Marke. Wer ein älteres Einfamilienhaus mit Gas heizt, muss bereits mit Energiekosten von 3500 bis 4000 Euro im Jahr rechnen, Heizungsmonteure oder Parkettleger nehmen für ihre Arbeit einen Aufschlag von 9,4 Prozent. Das beliebte Mrs. Rumpsteak bei der Hamburger Restaurantkette Block House kostet nach zwei Preiserhöhungen innerhalb von wenigen Monaten 20 Euro. Und für das Pfund Kaffee bei Tchibo müssen die Kunden von Ende Februar an zwischen 50 Cent und 1,30 Euro mehr bezahlen. Nahezu alle Produkte und Dienstleistungen sind in den vergangenen Monaten teurer geworden – und zwar deutlich.

Blickt man in den offiziellen Warenkorb der Statistischen Bundesamtes, so lesen sich die jüngsten Preiserhöhungen im Jahresvergleich wie folgt: Leichtes Heizöl: plus 52 Prozent, Erdgas: plus 32 Prozent, Strom: plus 11 Prozent, Gemüse: plus 8,3 Prozent, Butter: plus 6,3 Prozent, Autoreparatur: plus 4,9 Prozent. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Nach Jahren des Preisstillstandes ist sie wieder zurück: die Inflation.

„Anfangs dachte man, nur Energie würde teurer, doch mittlerweile schlagen die hohen Energiepreise auf viele andere Produkte und Dienstleistungen durch“, sagt der Ökonom Henning Vöpel. Der frühere Chef des Hamburger Wirtschaftsforschungsinstituts HWWI und heutige Direktor des Centrums für Europäische Politik geht für das Jahr 2022 von einer Inflationsrate in Höhe von mindestens drei Prozent aus.

Inflation: Die EZB muss endlich ein klares Zinssignal setzen

Um knapp fünf Prozent sind die Verbraucherpreise allein im Januar 2022 im Jahresvergleich nach oben geschnellt. Und ein Ende dieser Entwicklung zeichnet sich nicht ab. Und wie reagiert die EZB mit ihrer Präsidentin Christine Lagarde? Mit französischer Gelassenheit ist das Verhalten noch nett umschrieben. Man könnte das Nichtstun auch als Arroganz bezeichnen. Arroganz gegenüber immer mehr Haushalten in Europa, die kaum noch wissen, wie sie ihre Gasrechnungen, ihre Lebensmitteleinkäufe und den Kraftstoff für ihr Auto bezahlen sollen.

Eigentlich hat die EZB den Schlüssel in der Hand, um Europas Regierungen, Unternehmen und Verbrauchern zu signalisieren: Wir tun etwas gegen die hohe Inflation. Und dieser Schlüssel heißt: Erhöhung der Leitzinsen. Doch sie benutzt ihn nicht. Derzeit können sich Geschäftsbanken und Sparkassen für null Prozent Geld bei der EZB leihen und diese Billigkonditionen an ihre Privat- und Geschäftskunden weitergeben.

Volkswirt Vöpel hält das für einen Fehler: „Die Europäische Zentralbank sollte in diesem Jahr noch mindestens einmal die Zinsen anheben. Es ist an der Zeit, ein Signal an die Märkte zu senden.“

Die Folge des Kurses der EZB: Schuldenmachen kostet so gut wie nichts mehr. Da verwundert es nicht, dass sich junge Familien für eine Immobilie weit über das eigentlich finanziell Machbare hinaus verschulden, und die Preise für Häuser und Wohnungen steigen und steigen. Ein Mittelreihenhaus in einer durchschnittlichen Hamburger Wohnlage für eine Million Euro? Vor fünf Jahren hätten Kaufinteressenten den Anbieter noch für verrückt erklärt, mittlerweile gibt es auch für diese Immobilien eine Nachfrage.

Ökonomisch gefährlicher Irrsinn

Doch sollten die Lebenshaltungskosten weiter in dem Tempo zulegen wie in den vergangenen Monaten, dürften in den nächsten Jahren immer mehr Immobilienkäufer ihre hohen Kredite nicht mehr bedienen können. Das einstige Traumhaus würde zum Albtraum. Ökonomisch ist es gefährlicher Irrsinn, Kredite zu verschenken.

Denn Kreditnehmer werden zu unvorsichtig, nehmen mehr Schulden auf, als sie sich eigentlich leisten können. Und die Banken schauen bei der Darlehensvergabe nicht mehr so genau auf die Bonität ihres Gegenübers, weil der Konkurrenzdruck durch die anderen spendablen Kreditgeber viel zu groß ist.

Denn wer Geschäft machen will, muss die Konditionen der Wettbewerber möglichst unterbieten. Geht dieses riskante Spiel schief, wird es teuer. Die Zahl der Zwangsversteigerungen und Privatinsolvenzen steigt zunächst langsam, schließlich immer schneller. Aus Spiel wird bitterer Ernst.

Leben wird teuer, Sparen bringt nichts

Die amerikanische Notenbank (Fed) hat die Gefahren der hohen Inflation längst erkannt. Bis zu vier Leitzinserhöhungen hat Fed-Chef Jerome Powell noch für 2022 in Aussicht gestellt. Kredite sollen teurer werden und Sparzinsen endlich wieder steigen. Denn während derzeit alle über die hohe Inflation reden, gerät etwas anderes fast schon in Vergessenheit: Das Leben wird nicht nur immer teurer, gleichzeitig gibt es auch so gut wie keine Zinsen mehr aufs Ersparte. Im Gegenteil: Hunderte von Banken in Deutschland berechnen ihren Kunden schon länger sogenannte Verwahrentgelte, die nichts anderes sind als Strafzinsen.

Ihre Begründung: Schließlich müssten auch die Banken bei der EZB Gebühren für geparktes Geld bezahlen. So werden die Kleinsparer praktisch doppelt enteignet: Hohe Inflation plus Negativzinsen bedeuten eine Geldentwertung, die es in dieser Größenordnung schon lange nicht mehr gegeben hat. Doch statt – wie Fed-Chef Jerome Powell – eindeutige geldpolitische Signale an die Märkte zu senden, um dieser ökonomisch mehr als ungesunden Entwicklung Einhalt zu gebieten, sitzt EZB-Präsidentin Lagarde das Thema lieber aus, flüchtet sich ins Unpräzise: „Es gibt keinen Grund für voreilige Schlussfolgerungen.“

Warum die EZB jetzt reagieren muss

Der Hauptgrund für das selbst von der Deutschen Bundesbank äußerst kritisch beäugte Zaudern der EZB ist ein simpler: Steigen die Zinsen, bekämen vor allem hoch verschuldete Länder wie Griechenland, Italien, aber auch Frankreich große Probleme bei der Finanzierung ihrer Staatsausgaben und dem Abbau der riesigen Schuldenberge.

Sie könnten sich plötzlich kein Geld mehr zum Nulltarif leihen, müssten mit ihren Finanzen wieder haushalten – eine Politik, die viele europäische Regierungen in den vergangenen Jahren längst verlernt haben. Reagiert die EZB aber nicht, und steigen die Preise in den nächsten Monaten weiter so rasant, könnte eine andere, äußerst gefährliche Entwicklung an Tempo gewinnen.

Die Gewerkschaften dürften sich dazu berufen fühlen, den Beschäftigten finanziell zu helfen. Für immerhin knapp zehn Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer laufen 2022 die Tarifverträge aus. Unter anderem tritt die mächtige IG Metall noch in diesem Jahr in den Lohnpoker mit den Arbeitgebern ein. Der tiefe Schluck aus der Lohnpulle für die mehr als drei Millionen Kollegen in der Autoindustrie, dem Flugzeug- und Maschinenbau wäre programmiert.

Schaut man auf die bereits bekannten Tarifforderungen der Einzelgewerkschaften, so steht derzeit nahezu immer mindestens eine Fünf vor dem Komma. Zudem steigt der gesetzliche Mindestlohn ab Oktober auf zwölf Euro. Das Gespenst der Lohn-Preis-Spirale geht um. Der simple Mechanismus: Die Preise steigen, die Gewerkschaften setzen besonders hohe Löhne durch, die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen bleibt ungebremst, die Preise ziehen noch stärker an. Eine gefährliche Entwicklung, deren Automatismus schon in früheren Zeiten kaum zu stoppen war.

Lernen aus den 1970er-Jahren

Der Blick in die 1970er-Jahre lohnt hier durchaus. Auch damals zogen die Ölpreise – aus anderen Gründen als heute – stark an. Nicht nur Energie, auch viele weitere Produkte und Dienstleistungen wurden extrem teurer. Die Gewerkschaften setzten daraufhin Lohnerhöhungen durch, die zum Teil bei mehr als zehn Prozent lagen. Eine Lohn-Preis-Spirale wurde in Gang gesetzt mit jährlichen Inflationsraten zwischen vier und sieben Prozent.

Der Unterschied zu heute: Sparer konnten zumindest einen Teil der Geldentwertung auffangen, wenn sie über Rücklagen verfügten. Denn für dreimonatige Spareinlagen gab es im Schnitt zwischen vier und fünf Prozent Zinsen, für Festgeld sogar deutlich mehr. Von solchen Renditen aufs Ersparte können die Deutschen aktuell nur träumen.

Bleibt die Frage, wo wird diese explosive, historisch nahezu einmalige Mischung aus hohen Inflationsraten und Nullzinsen hinführen, sollte die EZB nicht gegensteuern? Offensichtlich soll der Staat es richten – ein Irrweg! Mit immer großzügigeren Transferzahlungen versuchen die Regierungen europaweit, sich sozialen Frieden zu erkaufen. So werden nun in Deutschland und anderen europäischen Ländern unter anderem Heizkostenzuschüsse an Bedürftige überwiesen. Der Staat stellt die Ärmsten in der Gesellschaft mit großzügigen Finanzhilfen ruhig.

Was kommt noch – der Gemüsezuschuss?

Und wer kümmert sich um die Mittelschicht? Erst vor wenigen Tagen forderte die Wohnungswirtschaft, der Staat müsse allen Mietern einen Teil der Heizrechnung erstatten. Was kommt noch? Der Gemüse-Zuschuss? Der staatliche Kaffee-Euro? Die äußerst üppigen Corona-Hilfen haben den Schuldenberg bundesweit ohnehin schon extrem anwachsen lassen. Und diese Großzügigkeit des Staates heizt die Inflation weiter an.

Kaum ist Geld geflossen, rufen viele Unternehmen nach neuen Hilfen. Das Problem: Ein großer Teil dieses Geldes wird nicht investiert, trägt also nicht zum Wachstum der Wirtschaft bei, sondern landet in den Rücklagen. Und diese aufgeblähte Geldmenge steigert den Inflationsdruck zusätzlich. Es ist Zeit, dass der Staat seine Transferpolitik endlich auf das Notwendigste zurückfährt und etablierte geldpolitische sowie marktwirtschaftliche In­strumente zum Einsatz kommen.

Höhere Zinsen müssen die Inflation eindämmen, Sparen für das Alter wieder attraktiv machen und dem Immobilienpreis-Irrsinn ein Ende bereiten. Eine zeitlich begrenzte Reduzierung der Steuern auf Energie wäre zudem deutlich effizienter, als staatliche Schecks fürs Heizen zu verteilen. Bleibt zu hoffen, dass nach der Pandemie die Stimmen der ökonomischen Vernunft lauter werden und die gefährliche Kombination aus überaus großzügigen Staatstransfers, hoher Inflation und Nullzins-Politik endlich der Vergangenheit angehört. Aber mit der Vernunft ist das ja so eine Sache