Hamburg. Experten befürchten deutlich sinkende Wachstumsraten. Droht Deutschland jetzt ein ökonomisch verlorenes Jahrzehnt? Eine Analyse.
Lange war die Wirtschaft kein Thema – Corona hatte jede Frage überlagert, wovon wir in Zukunft leben wollen. Nun kommt die ökonomische Frage mit Wucht zurück. Nach einem politisch verlorenen Jahrzehnt könnte nun ein ökonomisch verlorenes Jahrzehnt folgen: Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft rechnet mit deutlich sinkenden Wachstumsraten.
Ende des Jahrzehnts erwartet er noch 0,5 Prozent Wachstum in Deutschland. Zugleich nähmen die Verteilungskonflikte zu. Der IW-Chef Michael Hüther sagte der „Welt“: „Wenn die Politik nicht aufpasst und die Unternehmen überfordert, gleiten wir von einem goldenen Jahrzehnt in ein sehr trübes Jahrzehnt.“ Auch wenn Warnungen bei Ökonomen zum guten Ton gehören, getreu dem Motto „Die Klage ist des Kaufmanns Gruß“, haben sich die Perspektiven für das laufende Jahr eingetrübt.
1. Inflation
Das Spitzenthema dieser Tage ist ein alter Bekannter, der fast in Vergessenheit geriet: Die Inflation. Nach vielen Jahren, in denen die Preise kaum stiegen und Ökonomen vor einer Deflation warnten, kommt sie nun mit Macht zurück: Im Dezember kletterten die Verbraucherpreise hierzulande um 5,3 Prozent und fiel im Januar nur leicht auf 4,9 Prozent. Der lange zelebrierte Optimismus, die hohen Raten seien nur ein vorübergehender Ausreißer, hört man kaum mehr. Die Inflationsrate dürfte „weiterhin außerordentlich hoch bleiben“, warnt die Bundesbank.
Es sind mehrere Kräfte, die an der Preisschraube drehen: Zum einen wirken hier die Folgen der Pandemie und gerissene Lieferketten – man schaue nur auf Reedereien wie Hapag-Lloyd, die ihren Gewinn auf 9,4 Milliarden Euro steigern konnten und damit plötzlich zu den profitabelsten Unternehmen des Landes gehören. Zudem treiben die politischen Krisen die Öl- und Gaspreise – und die klimapolitischen Maßnahmen schlagen durch.
Hüther warnt: „Über den Tag hinaus kann daraus etwas Besorgniserregendes entstehen. Europa droht eine Stagflation, wenn die Politik nicht aufpasst. Ich rede hier nicht über dieses oder kommendes Jahr, sondern weit in das Jahrzehnt hinein, das vor uns liegt.“ Stagflation, diese toxische Mischung aus Inflation und Stagnation, hielt man seit den Siebzigerjahren für überwunden.
2. Die Rückkehr der Schuldenkrise
Manchmal wiederholt sich die Wirtschaftsgeschichte: Es ist bald zehn Jahre her, da veränderten zwei Sätze die Welt: Der damalige EZB-Chef Mario Draghi versprach im Juli 2012, die Zentralbank werde alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten. Allen Zweiflern diktierte er in die Blöcke: „Und glauben Sie mir, es wird genügen.“ Tatsächlich gelang es der Zentralbank, den Euro zu stabilisieren – diverse billionenschwere Anleihekaufprogramme wurden aufgelegt, die Zinsen in den negativen Bereich gedrückt.
Insgesamt hat die EZB mehr als drei Billionen Euro in den Ankauf von Staatsanleihen und Unternehmenspapiere gesteckt, um die Wirtschaft in der Eurozone anzukurbeln und überschuldete Staaten im Süden zu stabilisieren. Im laufenden Jahr sollen die Märkte nun auf langsamen Entzug gesetzt werden. In den USA signalisiert die Notenbank bereits vier Zinsschritte. Ende 2022 dürfte es auch in Europa so weit sein – die Deutsche Bank rechnet dann mit der ersten Zinserhöhung, der weitere folgen werden. Unabsehbar ist, ob sich die südeuropäischen Staaten dann in einem sich selbst tragenden Aufschwung befinden und den Zinsanstieg wegstecken – oder die Schuldenkrise zurückkehrt.
3. Lieferengpässe
Die deutsche Wirtschaft, traditionell exportgetrieben, hatte in den vergangenen Monaten stärker als andere unter Lieferengpässen gelitten. Viele wichtige Rohstoffe und Vorprodukte, vor allem Chips für den Automobil- und Maschinenbau kamen zu selten und zu spät in deutschen Häfen an. Immerhin zeichnet sich jetzt eine leichte Entspannung ab: Der Ifo-Geschäftsklimaindex, Deutschlands wichtigstes Konjunkturbarometer, stieg im Januar erstmals seit Mitte 2021 leicht.
Die Liefersituation im verarbeitenden Gewerbe und am Bau entspannte sich leicht, nun klagen noch rund 67 Prozent der Unternehmen über Probleme; im Dezember waren es noch 82 Prozent. Allerdings hängt die weitere Entwicklung des Welthandels am seidenen Faden China: Bislang regiert die Führung dort auf das Auftreten von Corona mit einer Zero-Covid-Strategie, von der weder Wirtschaft noch Handel verschont bleiben. Kurzerhand musste zuletzt die zentralchinesische Metropole Xi’an mit 13 Millionen Bewohnern für vier Wochen in den Lockdown. Und nun laufen die Olympischen Spiele in Peking.
4. Politische Krisen
Als die Spiele 2013 in die chinesische Hauptstadt vergeben wurden, sah die Welt noch anders aus: Die USA unter Barack Obama hatte die Volksrepublik kaum als Widersacher ausgemacht, China selbst hielt sich außen- und machtpolitisch zurück. Inzwischen ist klar: Zwischen China und den USA droht eine weitere Verschlechterung der Lage, den neuen chinesischen Imperialismus bekommen nicht nur Hongkong oder Taiwan, sondern auch Australien oder Litauen zu spüren. Die Olympischen Spiele werden daran nichts ändern – höchstens die Chinesen diplomatisch disziplinieren. Zur Erinnerung: Vor acht Jahren waren die Winterspiele im russischen Sotschi gerade vorbei, als die Krimkrise eskalierte.
Davon haben sich die Ost-West-Beziehungen bis heute nicht erholt. Im Konflikt zwischen der Ukraine und Russlands erlebt die Welt gerade das größte Wettrüsten seit Ende des Kalten Krieges: Die Russen haben mehr als 100.000 Soldaten zusammengezogen; die Nato versucht ihrerseits mit Truppenverlegungen ein Abschreckungsszenario aufzubauen. Die Hoffnung, dass sich aus dieser Eskalation der Worte kein heißer Krieg entwickelt, lebt.
Der Westen wird wegen der Ukraine keinen Krieg vom Zaun brechen: Wahrscheinlich gilt, was Herfried Münkler sagte: „Putin weiß: Wer frech und selbstbewusst immer wieder mit militärischen Optionen droht, ist lange Zeit auch ein Gewinner.“ Zugleich gilt: Politische Konflikte werden oft zu ökonomischen Konflikten. Russland etwa ist der wichtigste Lieferant von Gas für die Bundesrepublik.
5. Energiewende
Die Abhängigkeit von Russland wird in den kommenden Jahren noch steigen: Drei der letzten sechs verbliebenen Atomkraftwerke hat die Bundesrepublik gerade abgeschaltet, die letzten drei sollen Silvester folgen. Auch aus der Kohlekraft möchte die Politik schnell aussteigen – bleibt also nur Gas für die Grundlast der Energieversorgung. Bislang kommen rund 40 Prozent aus den Niederlanden und Norwegen, deren Anteil aber wird sinken.
Da Flüssigerdgas LNG in Deutschland mangels Terminals noch gar nicht ankommen kann, wächst der russische Einfluss: Der frühere Bundesminister Manfred Lahnstein (SPD) brachte es kürzlich auf den Punkt: „Sich für die Deckung der Grundlast einem beherrschenden Lieferanten auszuliefern, ist eine grobe Fahrlässigkeit. Die deutsche Energie-Versorgungs-Politik ist auf Kante genäht und muss das Land in erhebliche Schwierigkeiten führen.“
Nun haben auch die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute vor Illusionen über die Kosten der Klimawende gewarnt. Jan Pieter Krahnen vom Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung sagt: „Der Wandel wird teuer.“ Ifo-Präsident Clemens Fuest sagte auf dem Leibniz-Wirtschaftsgipfel, die Energiewende trage zu einem weltweiten Gut bei, aber sie werde den deutschen Wohlstand nicht steigern. „Von 100 Euro, die wir ausgeben, kommen vielleicht ein oder zwei Euro uns zugute.“
Die Kosten aber könnten die Wettbewerbsfähigkeit untergraben: Schon jetzt sind die Strompreise hierzulande höher als in den Nachbarländern. Und der Ausbau von Wind und Sonnenenergie sowie die Wasserstoffwirtschaft werden die Preise tendenziell weitertreiben. Kritiker der Energiewende sehen zudem die Versorgungssicherheit gefährdet – sollte der Strom in Zukunft unsicherer fließen und Großabnehmer vom Netz genommen werden müssen, hätte dies fatale Folgen.
6. Infrastruktur
Noch ein weiterer früherer Trumpf des Standortes sticht nicht mehr – die Infrastruktur: Die aktuelle Studie „Business Destination Germany 2022“ der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zeigt den Reputationsverlust der Republik: Demnach sehen ausländische Konzerne die Bundesrepublik zunehmend kritisch und fahren ihre Investitionen zurück. Deutschland habe „weiter an Wettbewerbsfähigkeit verloren“.
Als größtes Investitionshemmnis nannten die Konzernvorstände eine unzureichende digitale Infrastruktur. Für neun Prozent der Befragten ist sie „die schlechteste in der EU“, für weitere 24 Prozent zählt sie „zu den fünf schlechtesten in der EU“. Bemängelt werden auch marode Straßen, Brücken und Schienen. Nur noch 59 Prozent der befragten Vorstände stuften die logistische Infrastruktur unter den Top fünf in der EU ein.
7. Fachkräftemangel
Aufgrund der demografischen Entwicklung in den kommenden Jahren könnte sich ein weiterer Standortvorteil zum Nachteil verkehren: Deutschland gehen die Fachkräfte aus. Auf der einen Seite wirkt der Mangel als Preistreiber, weil gut ausgebildete Arbeitnehmer deutlich mehr Geld verdienen können – das ist gut für die Beschäftigten, in einem Inflationsumfeld aber gefährlich, wenn sich Löhne und Preise gegenseitig aufschaukeln. Zudem bremst der Fachkräftemangel Wachstum und Investitionen.
Nach einer Prognose des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung wird sich das Wachstum bei Normalauslastung der Kapazitäten von 1,5 Prozent im Jahr 2019 auf 1 Prozent im Jahr 2024 verringern. Hinzu kommen politische Fehler: Nun belastet die Rente mit 63, die die Große Koalition ohne Not 2014 ersann: Seit 2015 haben insgesamt 1,74 Mio. Versicherte davon Gebrauch gemacht – 340.000 mehr, als ursprünglich kalkuliert. Was für die Betroffenen eine goldene Brücke in den verdienten Ruhestand sein kann, ist für die Unternehmen wie Rentenkassen fatal: Die Gesamtausgaben für die abschlagsfreie Rente werden im Frühjahr erstmals über drei Milliarden Euro steigen – pro Monat.
8. Die „Great Resignation“
In den angelsächsischen Ländern kommt ein neues Phänomen hinzu, das „Great Resignation“ genannt wird. Immer mehr Menschen verlassen nach Corona ihren Job und gestalten ihr Leben neu. In den USA steigen die Zahlen von einem Rekord zum nächsten, im November haben 4,5 Millionen Menschen freiwillig ihren Job gekündigt, so viele wie nie zuvor. Umfragen zufolge ist auch in Deutschland die Bereitschaft, den Arbeitgeber zu wechseln, so hoch wie nie zuvor. So sagte fast jeder Zweite, dass er mit dem Gedanken spielt. Einzelne Branchen – etwa die Pflege oder Mitarbeiter in Restaurants klagen schon jetzt über einen Exodus.
Die Ursachen sind vielfältig: Der Corona-Stress und eine Rückbesinnung darauf, was wichtig ist, spielt ebenso eine Rolle wie Fehlanreize durch übergroße Konjunkturprogramme und einen Wertwandel. Andere wollen das heimische Arbeiten zum Dauerzustand machen. Die Generation der Millenials, die zwischen 1980 und der Jahrtausendwende geboren wurden, gelten als extrem anspruchsvoll. Geht der Kündigungsreigen weiter, droht ein Dominoeffekt – denn für die verbleibenden Mitarbeiter wird der Job so immer schwieriger.
9. Wirtschaftsfeindlichkeit
Es passt ins Bild – in den Jahren des Wirtschaftswunders hat die Republik gern und oft diskutiert, wie wir leben wollen, aber dabei aus den Augen verloren, wovon sie in Zukunft eigentlich leben will. Auch in der Debatte um die Folgen des Lockdowns hat sich herauskristallisiert, dass ökonomische Grundkenntnisse in breiten Teilen der Bevölkerung auch bei klugen Menschen eher schwach ausgebildet sind: Überall wurde ein Gegensatz aus Wirtschaft und Gesundheitsschutz konstruiert; so predigte der Corona-Lockdown-Erklärer Prof. Harald Lesch: „Für mich ist es vor allem auch ein Sieg der Moral über die Ökonomie.“ Als ob die Wirtschaft auf einem anderen Planeten lebt!
Am Ende könnte die Rechnung anders ausfallen – ein funktionierendes Sozialsystem benötigt eine florierende Wirtschaft und ausreichend Steuereinnahmen. Zugleich werden die immensen Corona-Aufwendungen des Staates bald bezahlt werden müssen – sicher auch mit Einsparungen und dem Abbau von Leistungen. Doch für manche ist der Corona-Lockdown nur die Ouvertüre für den Klima-Lockdown. Die Pandemie hat zum einen die Durchgriffsrechte des Staates aufgezeigt, zum anderen eine große Zustimmung in der Bevölkerung für den starken Staat gezeigt. Nach Corona könnte möglich werden, was vor Corona unmöglich schien. Im linken Lager träumen manche schon von der Überwindung des Kapitalismus, der großen Umverteilung und der Staatswirtschaft – dieses Mal, um das Klima zu retten.
10. Die gespaltene Gesellschaft
Dieses Begriffspaar darf derzeit in keiner Sonntagsrede, keiner Talkshow, keinem Leitartikel fehlen: Möglicherweise werden der Streit um die Impfungen, die Spaziergänge von Gegnern der Corona-Maßnahmen und Demonstrationen überbewertet und fallen mit einer Beruhigung der Pandemie in sich zusammen. Vielleicht aber verfestigen sich an den Rändern Querdenker-Strukturen, die Rechtspopulisten Zulauf verschaffen und damit die Spaltung vorantreiben.
All das würde die innenpolitische Stabilität der Republik unter Stress setzen, umso mehr, wenn Schocks von außen wie ein Krieg oder eine neue Flüchtlingskrise hinzukommen. 2022 ist ein Superwahljahr in Deutschland – am 15. Mai wird im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Schon einmal veränderte eine Wahl im Westen die Republik: Am 22. Mai 2005, nur eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale in NRW, kündigten SPD-Parteichef Franz Müntefering und Kanzler Gerhard Schröder Neuwahlen für den Bundestag an.
11. Die Pandemie
Die größte Unbekannte der Wirtschaftsentwicklung bleibt 2022 die Pandemie. Schon im vergangenen Jahr hat sich gezeigt, dass die Annahme falsch war, mit dem Frühjahr sei das Schlimmste überwunden. Während heute manche Virologen Omikron für den Schlussakkord halten und wie Jonas Schmidt-Chanasit von einem baldigen Ende ausgehen, warnt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor einer weiteren Welle im Herbst. „Ich glaube, dass es weitere Varianten geben wird, weil wir weltweit noch so viele Menschen haben, die sich infizieren können. Im Herbst haben wir wieder ein Problem“, sagte er.
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Und weil die Deutschen zuletzt besonders scharf auf das Virus reagiert haben, belastet Corona die Wirtschaft stärker: So wuchs Frankreich 2020 um 7 Prozent, die Bundesrepublik um schlappe 2,8 Prozent. Alle Jahresprognosen bleiben mit Unsicherheiten behaftet. Sicher hingegen sind die Ausfälle, die die Pandemie in der deutschen Wirtschaft ausgelöst hat: Das Institut für Weltwirtschaft Kiel hat berechnet, dass nach den coronabedingten Ausfällen von etwa 180 Mrd.
Euro (5,8 Prozent des BIP) im Jahr 2020 im vergangenen Jahr weitere Ausfälle von etwa 150 Mrd. Euro (4,7 Prozent des BIP) hinzukamen. Das zeigt die mögliche Belastung wie das Erholungspotenzial. Die Kieler erwarten eine Erholung des Bruttoinlandsproduktes ab dem Frühjahr – insgesamt könnte die Wirtschaft 2022 um rund vier Prozent zulegen. Zur Mitte des Jahres werden, so das IfW „die gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten erstmals seit Beginn der Pandemie wieder normal ausgelastet sein“.
Wenn nichts dazwischenkommt.