Hamburg. Gebrauchte Jacken, Pullover und Kleider haben Nischendasein verlassen. Online-Plattformen wie Zeitgeist Vintage profitieren vomTrend.

Collegejacken sind besonders gefragt. Für alle, die sich nicht mehr oder noch nicht erinnern können: Das sind diese weitgeschnittenen Blousons, die bereits in den 1980er-Jahren besonders angesagt waren. Inzwischen sind sie wieder zurück. „Die gehören bei uns zu den absoluten Topsellern“, sagt Justus Rossa vom Start-up Zeitgeist Vintage.

Der Hamburger steht mit Co-Gründer Michel Oldehaver und Mitarbeiterin Marcia Wysocki vor einer Kleiderstange mit einem Dutzend der Jacken. Rot, Blau, Schwarz, in diversen Größen, mit Emblemen von bekannten Universitäten oder Marken. An anderen Stangen hängen Webpelzmäntel mit Leoparden-Print, Sweatshirts nach Farben sortiert, Pullis mit Norwegermuster, Flanellhemden, karierte Miniröcke. Was junge Menschen eben gerade so cool finden. Auf Tischen und Paletten sind Cordhosen und Retro-Lederbörsen sorgfältig drapiert.

Secondhand-Mode in Hamburg: Neu ist hier nichts

Neu ist hier nichts, alles wurde schon mal getragen. Eigentlich ist Zeitgeist eine Onlineplattform für Vintage-Mode. Seit einem halben Jahr gibt es auch einen Pop-up-Shop – in bester Innenstadtlage direkt an der Binnenalster. Nur wenige Meter entfernt hat vor Kurzem der niederländische E-Commerce-Anbieter Vintage Factory auf zwei Etagen am Jungfernstieg eröffnet. Schon das macht deutlich, dass das Geschäft mit abgelegten Kleidern längst aus dem Nischendasein raus ist.

Das Image von Mottenkugeln, Kellermuff & Co. war früher. Das Modebewusstsein wandelt sich, auch das Konsumbewusstsein. Und Corona beschleunigt diesen Trend. Getragenes zu tragen, ist nicht nur nachhaltiger und meist auch günstiger. Es gilt als Ausweis guten Geschmacks jenseits des Mainstreams. Gekauft wird nicht mehr nur im Secondhandladen um die Ecke, auf dem Flohmarkt, im Charity-Shop oder bei Zweite-Hand-Plattformen wie eBay, Momox, Vinted oder Mädchenflohmarkt. Auch große Modehändler wie About You, Zalando, H&M und C&A setzen auf den Handel mit Gebrauchtem. „Secondhandmode entwickelt sich gerade zu einem Megatrend“, sagt Zeitgeist-Geschäftsführer Michel Oldehaver. Man könnte sagen, es herrscht Goldgräberstimmung.

Secondhand-Mode in Hamburg: Digitaler Vintage-Handel

Zu fünft haben die jungen Gründer im ersten Corona-Sommer 2020 ihren digitalen Vintage-Handel gestartet, nachdem sie vorher schon mit limitierter Luxusmode und einer eigenen Upcycling-Marke im Netz Geschäfte gemacht hatten. „Dadurch haben wir gesehen, was die Leute wollen“, sagt Oldehaver, der eine kaufmännische Ausbildung und ein Studium im Bereich E-Commerce gemacht hat. Und viele wollen gerade Secondhand kaufen. Inzwischen hat Zeitgeist 16.000 Artikel online, mehr als 7000 zumeist junge Kunden weltweit und 2021 einen Umsatz im mittleren sechsstelligen Bereich erwirtschaftet.

„Unser Anspruch ist, dass wir einen unkomplizierten Einkauf mit den gleichen Qualitätsstandards wie bei Neuware abbilden – und zwar von Kopf bis Fuß“, sagt Justus Rossa. Nur wenn die Angebote möglichst vielen zugänglich seien, könnte sich auch ein nachhaltiger Effekt auf die Modeindustrie zeigen, so der 28-jährige Betriebswirt, der selbst nahezu ausschließlich Secondhand-Kleidung trägt. Inzwischen sind 15 Männer und Frauen im Team. Es gibt auch einen Auszubildenden.

Secondhand-Modehandel: Markt massiv in Bewegung

Dass der Markt massiv in Bewegung ist, zeigt der Momox Fashion Report 2022, der gerade veröffentlicht wurde. Aus der repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstitut Kantar im Auftrag des Secondhand-Onlineshops geht hervor, dass 67 Prozent der Deutschen bereits einmal Secondhand-Kleidung gekauft haben – ein Zuwachs von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für 84 Prozent der Teilnehmer hat der Kauf von gebrauchter Mode den Neukauf eines Kleidungsstücks ersetzt. Als Motivation werden der Nachhaltigkeitsaspekt (87 Prozent) sowie die Preisersparnis (83 Prozent) genannt.

Die Autoren einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zur Zukunft der Modebranche aus dem Frühjahr 2021 prognostizieren sogar, dass der Trend zu Kleidung aus zweiter Hand das Potenzial hat, in den kommenden zehn Jahren einen Marktanteil von bis zu 20 Prozent auf sich zu vereinen. „Aus unserer Brancheneinschätzung sehen wir einen sich weiter fortführenden Trend in Richtung Re-Commerce und kommerzialisierter Secondhand-Mode“, sagt Handelsexperte Stephan Fetsch.

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„Gründe sind nicht tagesaktuelle Ereignisse, sondern ein zunehmend bewusstes und weiter um sich greifendes werte- und prinzipienbasiertes Kaufverhalten. Dabei gehörten die junge und mittlere Generation zu den Vorreitern. Aber die Gesellschaft wendet sich in Summe gerade vermehrt einem postmaterialistischen Konsum zu. Das Marktforschungsinstitut Global Data hat ausgerechnet, dass sich die Umsätze für Secondhand-Kleidung weltweit in den nächsten drei Jahren auf rund 52 Milliarden Euro verdoppeln könnte.

Weltweit 200 Milliarden neue Kleidungsstücke pro Jahr

Die Entwicklung hat viel mit der Kritik an der globalen Modeindustrie zu tun. Greenpeace nennt es „einen Konsumkollaps durch Fastfashion“. In den vergangenen sechs Jahren habe sich die Zahl der jährlich produzierten Kleidungsstücke auf 200 Milliarden mehr als verdoppelt, so die Umweltschützer. Manche Hersteller bedienen den Markt mit mehr als 20 Kollektionen pro Jahr.

Verschiedenen Studien zufolge verursacht die Branche weltweit mehr CO2-Emissionen als die gesamte internationale Luftfahrt und die Seeschifffahrt zusammen. Dazu kommen verdreckte Gewässer, Müllberge und teilweise miserable Arbeitsbedingungen. Auf der anderen Seite kaufen die Deutsche im Schnitt 60 Kleidungsstücke im Jahr, tragen sie aber nur noch halb so lang wie vor 15 Jahren. Vieles landet auf dem Müll. Ein Ausweg ist, den nicht mehr geliebten Teilen „eine zweite Chance“ zu geben – also selbst weiterzuverkaufen (bringt Geld, macht aber Mühe) oder zu spenden (dann kümmert sich jemand anderes).

Es geht um gigantische Mengen – und zwar weltweit. Das Hamburger Start-up Zeitgeist bezieht seine Waren über Großhändler in Frankreich, Italien und aus den Niederlanden. „In Deutschland gibt es ein Quasi-Monopol von Altkleider-Recyclern, die eigene Verwertungskreisläufe aufgebaut haben“, erklärt Oldehaver den Umweg über das Ausland. Gerade ist wieder eine große Lieferung angekommen. Sieben Tonnen insgesamt, sogenannte A- oder B-Ware. Das bedeutet, dass die Teile keine oder letztlich nur wenige Gebrauchsspuren und Schadstellen aufweisen und oftmals von bekannten Markenherstellern produziert wurden. „Wir wissen, welche Kategorien kommen, aber nicht, was genau“, sagt Justus Rossa. „Es ist jedes Mal eine Wundertüte.“

Händler wie About You und H&M bieten „Preloved“-Mode

In der Zeitgeist-Zentrale in der Eiffestraße wird alles noch mal sortiert, gewaschen, gebügelt, fotografiert, vermessen und in den Onlineshop eingepflegt. „Das ist sehr wichtig, dass die Größenangaben genau sind und auch Mängel angegeben sind, um die Retourenquote niedrig zu halten“, sagt Mitarbeiterin Marcia Wysocki. Außerdem wird für jedes gebraucht gekaufte Stück die durchschnittliche Ersparnis bei Energie, Wasser und CO-Verbrauch im Vergleich zu einem Neukauf angegeben. Die Preise liegen in der Regel deutlich über dem Niveau von Flohmärkten und den Läden von Hilfsorganisationen wie Oxfam oder dem Deutschen Roten Kreuz. Eine Jeans von Levis etwa kostet zwischen 35 und 50 Euro, ein Sweatshirt gibt es für 19 bis 39 Euro. Das ist auch mehr, als man bei Billigketten wie Primark, Kik, C&A oder H&M bezahlt. „Aber wir bieten eine ganz andere Qualität und Wertigkeit“, sagt Michel Oldehaver und zeigt auf den gediegenen Wollmantel, den er trägt. „Den konnte ich mir leisten, weil ich ihn Secondhand gekauft habe.“

Dass auch die großen Modehändler den Markt entdecken und mit Begriffen wie „preloved“ oder „preowned“ für die gebrauchten Kleider werben, ist nur die logische Weiterentwicklung. H&M hat mit der Plattform Sellpy eine eigene In­frastruktur aufgebaut. Zalando bietet zudem eine Tauschfunktion an. About You kooperiert mit Mädchenflohmarkt, Vite EnVogue und Vinokilo. Die Hamburger Plattform hat inzwischen mehr als 360.000 Teile online. „Das Second-Love- Angebot wird von unseren Kundinnen sehr gut angenommen“, sagte eine Unternehmenssprecherin. Zahlen nennt sie nicht. Es werde an der Ausweitung des Sortiments und an der Möglichkeit für Kunden, getragene Kleidung über den Retourenprozess einfach zurückgeben zu können, gearbeitet. „Das soll auch für Kleidung gelten, die nicht bei uns gekauft wurde, und die About You für die Kundinnen weiterverkauft.“

Millionen-Investment für Hamburger Reverse Retail

Vor allem im Luxussegment haben Investoren den Markt als Chance für lukrative Anlagen entdeckt. Gerade ist Momox-Gründer Christian Wegner mit einem Millionenengagement bei dem Hamburger Unternehmen Reverse Retail eingestiegen, das mit Vite EnVogue und Buddy&Selly Europas zu den großen Onlinehändlern für Designer- und Luxus-Secondmode gehört. Das französische Pendant Vestiaire Collective war in der letzten Finanzierungsrunde im 1,7 Milliarden Dollar bewertet worden. Zu den Investoren gehörten die Firma von Al Gore, die Gucci-Mutter Kering und der Technologie-Investor SoftBank.

Davon sind die Gründer von Zeitgeist Vintage weit entfernt. Aber die Wachstumsziele sind ehrgeizig. „In diesem Jahr wollen wir die Marke von einer Million Euro Umsatz schaffen“, sagt Geschäftsführer Michel Oldehaver. Nicht unrealistisch. Unter dem Namen „Reworked“ hat das Zeitgeist-Team eine eigene Kollektion entwickelt, für die Secondhand-Teile mit größeren Schäden neu designt werden.

Auch der Laden am Ballindamm, der aktuell in der Winterpause ist, soll im März wieder öffnen. „Es ist für uns ein wichtiger Ort, um mit den Kunden direkt im Kontakt zu sein“, sagt Justus Rossa. Dabei sind die Vintage-Händler längst auch Trendscouts. Große Modefirmen gucken genau hin, was dort verkauft wird. „Dass Collegejacke eine Renaissance haben, wussten wir schon vor zwei Jahren“, sagt Michel Oldehaver.