Hamburg. Sprunghafte Prämienerhöhungen von 60 bis 100 Prozent bei Pflegezusatzversicherungen. Wie Betroffene reagieren können – alle Infos.
Die Beitragserhöhung hat es in sich: 26 Prozent mehr von einem Jahr auf das andere soll Sybille W. für ihre Pflegezusatzversicherung bei der Versicherung Continentale bezahlen. 68,36 Euro muss sie jetzt monatlich aufbringen. Das Rentenalter ist für die 50-Jährige noch fern und erst recht der Zeitpunkt, ab dem sie möglicherweise Pflegeleistungen in Anspruch nehmen muss. Nur, wenn sie bis dahin die Beiträge bezahlt, kann die Hamburgerin mit Zahlungen der Versicherungsgesellschaft rechnen.
„Ich frage mich jetzt, ob ich mir die Versicherung auf Dauer noch leisten kann, wenn die Beiträge so stark steigen, oder ob es nicht besser ist, die Police zu kündigen“, sagt Sybille W. So geht es auch anderen Verbrauchern, die nach Angaben der für solche Probleme mit Pflegezusatzversicherungen zuständigen Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen mit teils noch viel höheren Beitragssteigerungen zu kämpfen haben.
Warum steigen die Beiträge so stark? Was können Betroffene tun? Mit welchen Pflegekosten ist zu rechnen? Lohnt der Abschluss einer solchen Versicherung überhaupt noch? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was leisten solche Pflegezusatzversicherungen?
Die staatliche Pflegeversicherung, in die alle Krankenversicherten einzahlen müssen, erstattet nur einen Teil der tatsächlichen Kosten. Im Schnitt müssen für einen Aufenthalt in einem Pflegeheim in Hamburg pro Monat noch 2168 Euro hinzugezahlt werden. Tendenz: stark steigend. Zwischen 2018 und 2021 erhöhte sich der Durchschnittswert in der Hansestadt um 17 Prozent.
Um diese finanziellen Belastungen aufzufangen, gibt es private Pflegezusatzversicherungen. Besonders oft entscheiden sich Kunden für Tagegeld-Versicherungen, bei denen sie dann – abhängig von der Pflegestufe – monatlich eine bestimmte Summe ausgezahlt bekommen, über die sie frei verfügen können. Pflegekosten-Policen kommen für Kosten auf, die durch Pflege entstehen, die von den Pflegekassen nicht abgedeckt werden. Gemeinsam haben viele Pflegezusatzversicherungen, dass in jüngster Zeit die Tarife spürbar gestiegen sind.
Wie hoch sind die Steigerungen?
„Wir haben bei diesen Versicherungen exorbitante Prämiensteigerungen von 60 bis 100 Prozent festgestellt, die deutlich über das normale Maß hinausgehen“, sagt Philipp Opfermann, Versicherungsexperte der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. „Das ist ein Problem für viele Verbraucher, weil sie in manchen Fällen sich die Versicherung dann nicht mehr leisten können, gerade bei Ehepaaren, wo jeder einen Vertrag abgeschlossen hat.“
Auch wenn nicht jeder Tarif solche extremen Steigerungen zu verzeichnen hat, sind regelmäßige Prämienerhöhungen bei die Regel. Der Versicherungsmakler Steffen Kellner hat die Preisentwicklung von rund einem Dutzend Tarifen im Zeitraum zwischen 2017 und 2021 für verschiedene Altersgruppen analysiert (www.pflegeversicherung-ta rif.de). Bei nur einigen wenigen Tarife wie etwa Barmenia Pflege 100, Allianz PZTB03 und Hanse Merkur PG lag die Anhebung für 50 Jahre alte Versicherte dem nach lediglich im einstelligen Prozentbereich.
Dagegen verzeichnen die Tarife SDK PG und DFV Deutschland Pflege Flex sogar mehr als 40 Prozent Beitragssteigerung in vier Jahren. „Wir fordern, dass die BaFin als zuständige Aufsichtsbehörde diese enormen Beitragssprünge stellvertretend für alle Versicherten vorab ausreichend unter die Lupe nimmt“, sagt Wolfgang Schuldzinski, Vorstand der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.
Was sind die Gründe für die starken Beitragssteigerungen?
Die Versicherungsgesellschaften verweisen auf zwei Pflegereformen seit 2015, in deren Folge die Leistungen und die Kosten gestiegen sind. „Mit der Ausweitung der Leistungen 2017 bei der sozialen Pflegeversicherung konnten auch die Versicherer ihre Leistungen anpassen, weil es statt drei Pflegegrade jetzt fünf Pflegestufen gibt.
Das ging in der Regel mit einer saftigen Beitragssteigerung einher. Aber auch nach der Umstellung erleben wir noch deutliche Sprünge“, sagt Opfermann. Allein in drei Jahren stieg die Zahl der Pflegebedürftigen um rund 50 Prozent auf mehr als vier Millionen. Außerdem verzeichnen die Versicherer eine gestiegene Pflegedauer.
Wie können Kunden reagieren?
Von einer voreiligen Kündigung rät Verbraucherschützer Opfermann ab. „Denn dann sind die bisher eingezahlten Beiträge verloren, und später gibt es auch keine Leistungen“, sagt er. „Betroffene sollten in der Familie beraten, wie die finanzielle Situation im Fall der Pflege ist. Vielfach wurden die Policen mit emotionalen Argumenten verkauft wie ,Sie wollen doch später nicht Ihren Kindern zur Last fallen?’ oder wenn ein Partner in das Heim muss, droht dem anderen der Notverkauf des gemeinsamen Eigenheimes, wenn der Eigenanteil der Pflege nicht aus der Rente oder Ersparnissen gedeckt werden kann.“
Es sei in der Regel keineswegs so, dass der Partner die selbst bewohnte Immobilie verkaufen muss, um die Pflegekosten zu bestreiten, sagt Opfermann. „Auch Kinder werden zur Beteiligung an den Kosten nur herangezogen, wenn ihr eigenes zu versteuerndes Einkommen 100.000 Euro im Jahr übersteigt.“ Zudem könnten nur sehr gut verdienende eigene Kinder herangezogen werden, nicht aber die Schwiegerkinder. Entscheidend sei, welchem Zweck die Pflegezusatzversicherung dienen solle, so der Verbraucherschützer.
„Letztlich schützt sie vorhandenes Vermögen oder hohe Einkünfte. Sind sie nicht vorhanden, kommt man möglicherweise zu dem Ergebnis, dass eine Kündigung möglich ist, wenn man die Beiträge nicht mehr aufbringen kann“, sagt Opfermann.
Welche Optionen bei Beitragserhöhung haben Kunden konkret?
Die Continentale begründet die Anhebung des Tarifs von Sybille W. mit einer Abweichung der kalkulierten Leistungen von den tatsächlichen Kosten in einer Größenordnung von mehr als zehn Prozent. Versicherte haben in der Regel keine Möglichkeit, solche Angaben zu überprüfen.
„Die Angemessenheit der Erhöhungen kann nur im Rahmen eines Gerichtsverfahrens überprüft werden, was sich in der Praxis als sehr aufwendig und komplex darstellt“, sagt Opfermann. Bei einer Beitragserhöhung gibt es ein Sonderkündigungsrecht, doch das ist die schlechteste Lösung. Wegen der Gesundheitsfragen ist der Wechsel zu einem anderen Anbieter auch nicht so einfach wie bei einer Kfz- oder Hausratversicherung.
„Andere Möglichkeiten sind, die Leistungen, etwa das versicherte Tagegeld, zu senken oder die Dynamisierung abzuwählen“, sagt Opfermann. Dynamisierung ist eine Art Inflationsausgleich: Beiträge und Leistungen steigen regelmäßig.
Soll man eine solche Versicherungüberhaupt noch abschließen?
Zunächst sollten existenzielle Risiken wie Berufsunfähigkeit und Tod des Hauptverdieners über eine Versicherung abgesichert sein. Wie hoch der monatliche Beitrag für die private Pflegezusatzversicherung ist, hängt vom Alter und vom Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers ab.
„Je jünger man ist, desto günstiger ist die Police“, sagt Ulrike Kempchen, Leiterin Recht bei der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA-Pflegeschutzbund). Im Alter von 30 Jahren sei man bei einem guten Gesundheitszustand mit rund 30 Euro pro Monat dabei, 50-Jährige müssten hingegen schon etwa 60 Euro und mehr pro Monat zahlen. „Auf jeden Fall muss man sich auf steigende Beiträge einstellen“, sagt Opfermann. „Nicht selten wird wohl eher der Rat gelten: Lass es sein.“
Was kann Sybille W. tun?
Sybille W. hat eine sogenannte Pflegekostenversicherung abgeschlossen, die verspricht 80 Prozent der Kosten der Pflege inklusive Unterkunft und Verpflegung zu übernehmen. Mit Blick auf die künftigen Kostensteigerungen bei der Pflege ist das ein sehr attraktiver Tarif, weil er keine absolute Begrenzung des eines Tages ausgezahlten Betrages vorsieht. Wenn man die bisherigen Beitragssteigerungen berücksichtigt, so müsste Sybille W. im Alter von 60 Jahren voraussichtlich 103 Euro monatlich zahlen und mit 80 Jahren sogar 228 Euro.
Danach steigt statistisch die Wahrscheinlichkeit einer Pflegebedürftigkeit. Wenn sie die Police kündigt und künftig die rund 70 Euro Monatsbeitrag in einen ETF-Sparplan auf den MSCI-World-Index, also eine weltweite Aktienanlage, investiert, hätte sie mit einer konservativ angenommenen Rendite von fünf Prozent pro Jahr mit 80 Jahren rund 57.000 Euro angespart, die dann für die Pflegekosten eingesetzt werden könnten.
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Natürlich ist diese Anlage in Aktien mit Unsicherheiten behaftet. Es ist nicht klar absehbar, wie groß die Summe der Ersparnisse zum Zeitpunkt einer Pflegebedürftigkeit sein wird. Bei der Versicherung können die Leistungen abgerufen werden, wenn der Versicherungsfall eintritt, Sybille W. also pflegebedürftig wird – dann fließen sie lebenslang. Aber das hat seinen Preis. Sybille W. überlegt noch, was sie jetzt tun wird.