Hamburg. Ausgewähltes Fluggerät ist Mischung aus Hubschrauber und Flugzeug. Sieben Krankenhäuser in Hamburg sind dabei.

Das blaue Fluggerät auf der grünen Wiese an der Schön Klinik in Eilbek wirkt wie ein Requisit aus dem Filmklassiker „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft.“ Es ist exakt 1,56 Meter lang, 1,15 Meter breit und knapp 50 Zentimeter hoch. Auf den ersten Blick denkt man, einen richtigen Hubschrauber im Miniformat zu sehen. Beim zweiten Blick fallen jedoch die dafür untypischen Tragflächen auf. „Das ist eine Mischung aus Hubschrauber und Flugzeug“, sagt Gernot Steenblock.

Er ist Pilot und Verkaufschef des Hamburger Unternehmens Airial Robotics, das den sogenannten Gyrocopter mit dem Namen GT20 Gyrotrak herstellt. So sitzt hinter der vermeintlich schwarz getönten Frontscheibe auch kein im Film geschrumpfter Mensch auf einem Pilotensitz, sondern es gibt einen leistungsstarken Akku. Steenblock hebt den Gyrocopter hoch und drückt auf einen schwarzen Knopf auf der hinteren Seite. Die Klappe öffnet sich. Steenblock: „Das ist der Frachtraum“ – und dieser ist für den künftigen Einsatz in Hamburg besonders wichtig.

Abstand zum Flughafen muss gehalten werden

Denn die Drohne der Firma mit Sitz am Harvestehuder Weg ist für das Hamburger Vorzeigeprojekt Medifly ausgewählt worden. Sie soll künftig medizinische Fracht transportieren – über den Dächern der Hansestadt auf dem Luftweg. Im Februar 2020 gab es erste Testflüge zwischen dem Bundeswehr- und dem Marienkrankenhaus. Nun steht die nächste Phase an. Möglichst noch im Herbst sollen alle Genehmigungen bei den Behörden eingeholt sein, damit ein sechsmonatiger Testbetrieb starten kann, sagt Medifly-Projektleiterin Sabrina John: „Das hat noch kein anderer gemacht. Wir sind da Vorreiter.“

„Das Universitätsklinikum Eppendorf wäre der Ort, zu dem wir hinfliegen würden“, sagt Professor Harald Itt­rich. Er ist stellvertretender ärztlicher Direktor der Schön Klinik. Fünf- bis zehnmal die Woche werden in dem Krankenhaus Operationen durchgeführt, bei denen die Ärzte möglichst schnell wissen müssen, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist. Das Problem der Eilbeker wie auch vieler anderer Kliniken: Sie haben keine Pathologie, in der die sogenannten Schnellschnitte untersucht werden können.

Zeit ist beim Transport der Schnellschnitte kostbar

Bisher erfolgt der Transport in andere Häuser mit dem Krankenwagen. Im Idealfall brauche dieser 15 Minuten bis zum UKE. Häufig seien es aber wegen Baustellen und Staus auch 30 Minuten oder mehr, sagt Ittrich: „Die Operation pausiert so lange.“ In dieser Zeit stehen Ärzte und Schwestern quasi Stand-by, der Patient bleibt in der Narkose. Denn bei einem bösartigen Tumor muss mehr Gewebe entfernt werden als bei einem gutartigen.

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„Zeit ist das Hauptkriterium“, sagt Ittrich. Deshalb wurde die grüne Wiese am Grete-Zabe-Weg als Start- und Landepunkt der Drohne mit Bedacht gewählt. Direkt nebenan befindet sich das OP-Gebäude, das sorgt für sehr kurze Wege. In zehn Minuten will Airial Robotics die Gewebeproben nach Eppendorf fliegen.

Asklepios-Konzern ist mit fünf Krankenhäusern am Start

Auch andere Routen des geplanten Testbetriebs stehen schon fest. Der Asklepios-Konzern ist gleich mit fünf Krankenhäusern am Start. So sollen Schnellschnitte aus Heidberg, St. Georg, Rissen und Harburg ins Zen­trallabor nach Altona geflogen werden, sagt John. Und aus dem Zentrallager in Heidberg sollen Medikamente per Luftfracht an den anderen vier beteiligten Asklepios-Häusern landen. Auch das Bundeswehrkrankenhaus bleibe potenziell dabei, pausiere derzeit aber wegen eines Umbaus.

Das potenzielle Fluggebiet verteilt sich also quer über die Stadt – allerdings gibt es Zonen, die tabu sind. „Wir müssen fünf Kilometer Abstand zu den Start- und Landebahnen des Flughafens lassen“, sagt John. Und Einrichtungen wie Kitas, Schulen, Gefängnisse sowie hoch frequentierte Orte wie Einkaufsstraßen und Wochenmärkte dürfen nicht überflogen werden. Das Ziel sei es, möglichst nicht exakte Routen, sondern Ausschlussgebiete festzulegen, über denen nicht geflogen werden dürfte. So gewinne man mehr Spielraum bei der Streckenführung. Vor allem, wenn später mal mehrere Drohnen gleichzeitig fliegen sollten. Alle paar Kilometer werden Notlandeplätze festgelegt. Um Fragen der Anwohner zu beantworten, ist eine Bürgerinformationsveranstaltung geplant.

Navigationssatellitensystem ermöglicht präzise Landungen

Anfangs soll es nur eine Drohne geben, die sowohl tagsüber als auch nachts fliegen soll. Auch wenn einmal zentral alle Genehmigungen eingeholt sind, bleibt der Anruf bei der Flugsicherung am Flughafen mit der Bitte um Starterlaubnis vor jedem Abheben verpflichtend. Zunächst steht bei jeder neuen Route aber ein virtueller Flug im Simulator an. Für den realen Flug wird die Route in den Steuerungscomputer eingegeben.

Der GT20 Gyrotrak mit seinen 2,62 Metern Rotordurchmesser wird mithilfe des globalen Navigationssatellitensystems (GNSS) gesteuert. Das ermöglicht präzise Landungen. Die Fläche dafür muss fünf Meter Durchmesser haben. Mehr als 50 Zentimeter weiche man keinesfalls vom Landepunkt ab, heißt es. Gerade in einer dicht bebauten Stadt wie Hamburg ist das wichtig.

Leiseste Drohne, die es auf dem Weltmarkt gibt

Genauso wie die Lautstärke. „Wir stellen die leiseste Drohne her, die es auf dem Weltmarkt gibt“, sagt Jörg Schamuhn, Chef von Airial Robotics. Nur 56 Dezibel laut werde das Fluggerät. „Das ist Zimmerlautstärke und nicht mehr“, sagt Pilot Steenblock. Ermöglicht werde dies durch eine geringere Rotationsgeschwindigkeit. „Wir machen den Hauptrotor so langsam wie möglich“, sagt Schamuhn. Er drehe sich 675-mal pro Minute, bei einem Hubschrauber seien es zum Vergleich 1400 Umdrehungen.

Zu einem Probeflug kommt es an diesem Tag aber nicht. Ein defektes Teil verhindert dies. Experten von Lufthansa Technik, die ebenfalls im Medifly-Projekt involviert sind, haben den Gyrocopter aber schon in Frankfurt fliegen gesehen. „In puncto Sicherheit und für die designierte Mission erfüllt das Fluggerät alle unsere Anforderungen“, sagte Lufthansa-Technik-Sprecher Michael Lagemann. Die Tochter des Kranich-Konzerns ist für den Einkauf und den Betrieb der Drohne zuständig.

Airial Robotics begann mit der Entwicklung vor vier Jahren

Airial Robotics begann mit der Entwicklung vor vier Jahren. Zunächst erfolgten Tests auf Prüfständen, 2018 dann der Erstflug. 1500 Flugstunden stehen seitdem auf der Uhr. Etwa 20 Exemplare sind bisher gefertigt. Geflogen wurde zunächst in Ungarn – im dortigen firmeneigenen Werk wird der GT20 gebaut – und in Spanien – dort sitzt der Hersteller des Autopiloten. Denn die Drohne soll vollautomatisch um Hindernisse herumfliegen können. Trotzdem wird immer ein Pilot den Flug über das Mobilfunknetz auf einem gesicherten Link verfolgen.

„Es muss immer jemand überwachen“, sagt Steenblock und zeigt auf die Unterseite der Maschine: „Da ist der Scheinwerfer und eine Kamera drin.“ Damit die Drohne von anderen Teilnehmern im Luftraum auch wahrgenommen werden kann, sendet sie permanent ihre Position, Geschwindigkeit, Höhe sowie Lichtsignale. Technisch machbar sei ein Aufstieg auf 9000 Meter – in Hamburg werde sie im Regelfall aber eher bis zu 120 Meter hoch fliegen.

170 km/h schnell kann die Drohne fliegen

Die maximale Geschwindigkeit wird mit 170 Kilometern pro Stunde (km/h) angegeben. Am wenigsten Energie werde bei 70 bis 80 km/h verbraucht. Die Strecke zwischen der Schön Klinik und dem UKE soll mit einer Akkuladung fünf- bis sechsmal hin und zurück geflogen werden können. Die Reichweite soll bei bis zu 150 Kilometern liegen – viel für eine Drohne. Das gelingt durch die besondere Technik. Start und Landung erfolgen wie bei einem Hubschrauber senkrecht. Das kostet allerdings viel Energie.

Der Vorwärtsflug erfolgt dann sehr viel effizienter. „Wenn wir schneller sind als 13 Meter pro Sekunde, dann wird der Hauptrotor abgeschaltet und dreht sich durch den Fahrtwind“, sagt Steenblock. Das verschaffe den Großteil des Auftriebs, die Tragflächen würden nur zusätzliche Unterstützung geben. Die Folgen: Der Energiebedarf soll im Vorwärtsflug auf ein Viertel sinken. Und die Drohne kann rund zwei Stunden in der Luft bleiben.

Der GT20 kann auch mit einem Motor fliegen

Das hängt natürlich stark vom Gewicht ab. 7,5 Kilogramm wiegt die leere, überwiegend aus Carbon gefertigte Drohne. Dann kommt das Akkugewicht von 6,2 bis 9,5 Kilogramm dazu. „Je größer der Akku ist, umso schwerer wird er“, sagt Schamuhn. Da das Maximalgewicht bei 20 Kilogramm liegt, können also drei bis 6,3 Kilogramm zugeladen werden. Für die Medifly-Drohne ist jetzt schon klar, dass es rund 600 Gramm weniger sind.

Denn der GT20 kann zwar auch mit einem Motor fliegen, aus Sicherheitsgründen sollen es bei den Einsätzen über dem Stadtgebiet aber in jedem Fall zwei sein. Notwendig sei dieser gut ein halbes Kilogramm wiegende Zweitmotor aber nicht, versichern die Airial Robotics-Macher. „Selbst wenn der Hauptmotor ausfallen sollte, kann mit der Drohne aus 100 Metern Höhe noch ein Ziel in einem Kilometer Entfernung steuerbar erreicht werden“, sagt Steenblock.

Bis Windstärke 8 darf gestartet werden

Die Kombination aus hoher Reichweite und Windunabhängigkeit sei das ausschlaggebende Kriterium gewesen, warum der GT20 ausgewählt wurde, sagt John. Zum einen sind statt bisher fünf Kilometern Strecke nun rund 30 Kilometer Luftlinie zu bewältigen. Zum anderen wurde bei den Flugtests vor rund eineinhalb Jahren das damals eingesetzte Modell aus Süddeutschland mit viermal zwei Rotoren schon bei etwas böigem Wind deutlich langsamer. Und in Hamburg weht bekanntlich auch mal eine steife Brise. Der insgesamt 40.000 Euro teure Gyrocopter dürfe bis Windstärke 8 starten, sagt Steenblock: „Das Gerät würde sogar Windstärke 10 aushalten.“

Im Testbetrieb wird der Fokus auch auf dem Frachtraum liegen. Denn idealerweise sollte die Temperatur für den Transport der Schnellschnitte zwischen 5 und 20 Grad Celsius liegen. „Wir arbeiten an speziellen Transportmöglichkeiten mit Kühlfunktion für Medizinprodukte“, sagt Schamuhn. Für die Motoren gebe es ohnehin schon ein intensives Lüftungssystem, aus dem man etwas kühle Luft für den Laderaum abzweigen könnte.

Auch die Auswirkungen der Flugmanöver auf die Gewebeproben müssen analysiert werden

Auch die Auswirkungen der Flugmanöver auf die Gewebeproben müssen analysiert werden. Ittrich erinnert sich, dass es früher beispielsweise bei der Verschickung per Rohrpost vorkam, dass Blutgefäße zerplatzten. Doch wenn alles gut geht, hält er den Einsatz der Drohne auch für einen weiteren Bereich für möglich. „Das wäre auch auf Blutproben ausweitbar“, sagt der Mediziner. Denn an der Schön Klinik gebe es zwar ein Labor für die Basisanalysen, komplexere Untersuchungen werden aber ausgelagert.

Die 1,56 mal 1,16 Meter große und 50 Zentimeter hohe Maschine könnte übrigens große Schwestern bekommen. Das Hamburger Unternehmen setzt auf die Skalierbarkeit ihres Produkts. Es heißt, dass in größeren Versionen bis zu 600 Kilogramm Zuladung möglich seien. Damit käme man in den Bereich der Lufttaxis für die Beförderung von Menschen – und beim Anblick des Fluggeräts wähnte man sich nicht mehr in einer potenziellen Filmkulisse von „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“.