Berlin. Deutschlands oberste Autolobbyistin Hildegard Müller spricht über die Elektromobilität, Tempolimits – und eine Garantie für den Diesel.
Es ist ein gespaltenes Bild, das die deutsche Autoindustrie in diesen Tagen abgibt. Auf der einen Seite stehen Milliardengewinne der deutschen Autobauer. Auf der anderen Seite trüben der Chip- und Rohstoffmangel die Aussichten.
Mit Argusaugen blickt die Schlüsselindustrie zudem auf den Wahlkampf. Denn ein Tempolimit und strengere CO2-Vorgaben könnten auf die Branche zukommen. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), positioniert sich im Interview eindeutig.
Frau Müller, in der Automobilindustrie brummt es. Volkswagen hat trotz Corona-Pandemie einen Rekordgewinn eingefahren, auch Daimler und BMW haben die Erwartungen übertroffen. Ist die Krise überwunden?
Hildegard Müller: Das wäre schön. Der chinesische Markt liegt bereits wieder auf dem Niveau des Jahres 2019, auch Amerika erholt sich, Europa liegt dagegen noch mehr als 20 Prozent darunter. Und 2019 war schon kein gutes Jahr auf den Automobilmärkten. Für die Unternehmen, die viele Märkte bedienen, ist die Lage besser geworden als im Vorjahr. Aber: Viele Zulieferer, und da sind sehr viele Arbeitsplätze in Deutschland, leiden nach wie vor erheblich – und sind zusätzlich durch die größte Transformation in ihrer Geschichte gefordert. Hinzu kommt, dass die aktuelle Rohstoffknappheit den Aufschwung bremst.
Wie dramatisch ist die Lage bei den Chips und anderen Rohstoffen?
Müller: Der Aufschwung wird erheblich ausgebremst, obwohl die Chip-Hersteller versuchen, der Nachfrage nachzukommen und die Automobilindustrie in engem Austausch mit ihnen steht. Aber die Krise ist nicht kurzfristig lösbar, da es eine weltweite Knappheit gibt, die ja auch nicht nur die Autoindustrie betrifft.
Werden die Bänder bald wieder stillstehen?
Müller: Es stehen bereits Bänder still, weil Bauteile fehlen. Ich rechne nicht mit einer Verschlechterung der Lage, aber die Situation ist schwierig, wir sind abhängig vom Weltmarkt. Künftig müssen Deutschland und Europa Rohstoffsicherheit anders denken. Wir brauchen heimische Chip-Fabriken. Genauso wichtig sind neue Handelsabkommen und eine aktivere Außenpolitik für Rohstoffsicherheit als bisher.
Die Corona-Krise hat der Elektromobilität zum Durchbruch verholfen, im Zuge der Konjunkturprogramme fließen Milliarden in die Kaufförderung und den Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur. Warum bekommen die Autobauer den Wandel nicht ohne Subventionen hin?
Müller: Die Autoindustrie investiert 150 Milliarden Euro bis 2025 in neue Antriebe und die Digitalisierung. Das ist mehr als der Bund in der gleichen Zeit für Bildung, Forschung, Luft und Raumfahrt ausgibt. Nun gelten in Europa und Deutschland aber die anspruchsvollsten Klimaziele der Welt. Wenn die Politik aktiv in den Markt eingreift und Prozesse beschleunigen will, dann muss sie den passenden Rahmen bieten. Ganz konkret: Die ambitioniertesten Klimaziele der Welt brauchen die weltbesten Standortbedingungen, sonst wandert die Industrie ab. Wir verlieren dann nicht nur Arbeitsplätze, sondern schaden in der Folge auch dem Klima, da in vielen Ländern mit schlechteren Standards produziert wird.
VW hat gerade 2,4 Milliarden Euro an Dividende für das Geschäftsjahr 2020 ausgeschüttet, Daimler hatte die Dividende gegenüber dem Vorjahr sogar um 50 Prozent erhöht– obwohl jeweils Kurzarbeitergeld bezogen wurde. Halten Sie diese Aktionärsförderung auf Staatskosten für gerechtfertigt?
Müller: Die Autoindustrie zahlt doch viel mehr ein als sie entnimmt in Krisenzeiten. Seit 2005 haben die Unternehmen rund 4,7 Mrd. Euro mehr in die Sozialkassen eingezahlt als an Leistungen für die Automobilindustrie im Rahmen von Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und anderen Leistungen ausgezahlt wurden. Zudem: Kurzarbeitergeld ist vergleichbar mit einer Feuerversicherung. Wenn das Haus abbrennt, dann zahlt die Versicherung. Es wird nicht geprüft, ob der Kunde Geld auf dem Konto hat und das Haus aus eigener Tasche wieder aufbauen könnte. Das ist das Prinzip einer Versicherung.
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Hätten die Milliarden nicht besser in den Umbau hin zum Elektro- und Digitalkonzern investiert werden sollen?
Müller: Die Unternehmen investieren Rekordsummen in die Transformation. Gleichzeitig gilt: Volkswagen hat beispielsweise viele Kleinaktionäre, die mit der Aktie und ihren Dividenden Sparpläne bestreiten oder sie zur Altersvorsorge nutzen. Das meiste Geld bleibt ohnehin in den Unternehmen und wird neben den Investitionen auch an die Beschäftigten gegeben.
Gerade erst hat die EU-Kommission die CO2-Vorgaben verschärft. Was heißt das für die Branche?
Müller: Die Autoindustrie unterstützt ausdrücklich die Klimaziele und wir wollen bei klimaneutraler Mobilität die Maßstäbe setzen. Die deutschen Hersteller sind bereits Europameister bei E-Autos und wir wollen Weltmeister werden und damit weltweit am meisten neue E-Autos auf den Markt bringen. Gleichzeitig ist die deutliche Verschärfung der CO2-Reduktion für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge zum Jahr 2030 ein extremer Eingriff in den Markt. Da noch nicht alle Länder in Europa so weit sind wie wir, müssen mit dieser Vorgabe ab 2030 etwa 80 Prozent elektrische Autos in den deutschen Markt. Und bereits zwei Jahre später werden in Deutschland de facto keine neuen Benziner und Diesel mehr verkauft werden können, vielleicht sogar auch keine Hybride. Das wird für die Menschen nur funktionieren, wenn wir eine gute Ladesäuleninfrastruktur und ausreichend Ökostrom haben.
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Was muss bei den Ladesäulen jetzt passieren?
Müller: Wir brauchen bis 2030 allein in Deutschland mindestens eine Million Ladepunkte, mit den verschärften Vorgaben voraussichtlich sogar deutlich mehr. Zum Stand Juli gibt es aber gerade einmal 39.000 normale Ladepunkte und 6.500 Schnellladepunkte. Um das Ziel zu erreichen, müssten pro Woche 2.000 neue Ladepunkte gebaut werden. Es werden aber nur um die 300 gebaut. Die Konsequenz: Die Schere zwischen Ladepunkten und E-Autos wird größer statt kleiner, das ist schlecht für den Verbraucher. Wir brauchen hier mehr Anstrengung.
Auch im Ausland geht es schleppend mit der Ladesäuleninfrastruktur voran. Wer sich aber ein Elektroauto kauft, will damit vielleicht auch mal in den Urlaub ans Mittelmeer fahren.
Müller: Es scheitert schon an viel einfacheren Dingen. Wer beispielsweise in ein Neubaugebiet zieht, wo bereits zehn Haushalte mit Ladesäulen versorgt sind, muss damit rechnen, dass er keinen Ladeanschluss bekommt. Denn bei manchen Stromversorgern reicht die Netzspannung nicht aus und das Netz wird erst in einigen Jahren weiter ausgebaut. Dann warten Interessenten bisweilen lange auf ihre eigene Ladestation. Einen solchen Ladestau kann sich Deutschland nicht leisten. Und zur Situation in Europa: Wir brauchen bis 2030 sechs Millionen Ladepunkte, wir haben aber bisher gerade einmal etwa 260.000.
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Wessen Fehler ist das?
Müller: Infrastruktur ist Aufgabe des Staates, die EU hat in ihrem Green Deal Verpflichtungen für einen Ladesäulen-Ausbau festgelegt. Deutschland und alle anderen Mitgliedsstaaten müssen diese Aufbauverpflichtungen nun annehmen und engagiert umsetzen. Die Ladesäuleninfrastruktur ist entscheidend für das Vertrauen der Menschen in Elektromobilität. Viele Bürgerinnen und Bürger fürchten, keine Ladesäule zu finden. Diese Sorgen kann die Politik ihnen nur nehmen, wenn sie den Ladesäulenausbau entschlossen voranbringt. Viele Verantwortliche kennen aber noch nicht einmal die konkreten Förderbedingungen. Hier muss Aufklärungsarbeit geleistet werden. Es ist eine Riesenaufgabe, trotzdem muss sie jetzt schnell gelöst werden.
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Was für ein Auto würden Sie sich jetzt privat anschaffen?
Müller: Ich fahre aktuell ein Hybridauto – das passt perfekt zu meinen Bedürfnissen: Bei kurzen Strecken und in der Stadt fahre ich elektrisch. Wenn ich zum Beispiel meine Verwandtschaft in 400 Kilometern Entfernung besuchen will, kann ich Elektro und Verbrenner kombinieren.
Also ist jetzt trotz Kaufprämie kein guter Zeitpunkt zum Kauf eines Elektroautos?
Müller: Doch natürlich. Interessanterweise überschätzen viele Menschen ihr Fahrverhalten, sie fahren viel weniger, als sie denken. Für den innerstädtischen Verkehr und kurze Strecken eigenen sich E-Autos wirklich hervorragend und wenn der flächendeckende Ladepunkteausbau nun schnell vorangeht, wird es auch bei langen Strecken einfacher.
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Die Konzerne selbst gehen sehr unterschiedlich mit ihren Ausstiegsplänen beim Verbrennermotor um. Audi beispielsweise will 2026 aus dem Verbrennungsmotor aussteigen, BMW ist zurückhaltender und arbeitet mit Etappenzielen. Welchen Weg bevorzugen Sie?
Müller: Ich begrüße die unterschiedlichen Herangehensweisen ausdrücklich. Wettbewerb ermöglicht Innovationen. Die Politik weiß nicht besser als Ingenieure oder Forschungsinstitute, welche Technik am Ende überlegen sein wird. Wir sehen das bei den Lkw und Nutzfahrzeugen. Daimler und Volkswagen gehen dort verschiedene Wege. Daimler setzt auf die Wasserstoff-Brennstoffzelle, VW auf den Elektromotor. Die beste Technik wird sich durchsetzen.
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Also brauchen wir Ihrer Ansicht nach mehr Technologieoffenheit?
Müller: Definitiv. Ein anderes Beispiel: Wir haben derzeit weltweit 1,5 Milliarden Autos mit Verbrennungsmotoren auf den Straßen. Klimaneutralität erreichen wir also nur, wenn wir auch im Bestand etwas tun, etwa mit synthetischen Kraftstoffen. Bei deren Förderung ist die Politik aber nicht ehrgeizig genug.
Können Sie garantieren, dass ich, wenn ich mir heute einen neuen Diesel kaufe, diesen auch in sieben Jahren noch fahren kann?
Müller: Technisch ja. Die deutschen Hersteller bauen die besten Autos. Das Primat der Politik liegt natürlich beim Gesetzgeber, also kann ich nichts garantieren. Aber: Mobilität ist soziale Teilhabe. Sollte wirklich ernsthaft jemand ein Fahrverbot erhalten, weil er in ein paar Jahren aus finanziellen Gründen sein Verbrennerauto nicht gegen ein Elektroauto eintauschen kann, bekommen wir ein gewaltiges soziales Problem. Das wäre nichts anderes als eine Enteignung.
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Sie starteten vor eineinhalb Jahren als VDA-Präsidentin. Geholt wurden Sie unter anderem als Energieexpertin, um den Wandel zu beschleunigen. Jetzt wirkt es bisweilen so, als müssten Sie den Wandel bremsen…
Müller: Ganz und gar nicht. Die Automobilindustrie ist bereit, wir sind der Treiber beim Wandel und pochen darauf, dass andere mitziehen – bei den Ladesäulen, beim Stromnetz, beim Ökostrom, bei der Digitalisierung. Wenn wir irgendwann autonom fahren wollen, dann brauchen wir 5G wirklich überall! Die Automobilindustrie kann aber nicht den Netzausbau übernehmen, hier sind andere gefragt und müssen dafür sorgen, dass wir den technischen Vorsprung der deutschen Industrie nicht verspielen.
Die Grünen fordern ein Verbrennerverbot ab 2030 und ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern außerorts und 30 Stundenkilometern innerorts. Haben Sie Angst vor einer grünen Kanzlerin?
Müller: Ich bin sicher: Jeder und jedem, die oder der aktuell Kanzlerin oder Kanzler werden will, ist sehr bewusst, dass die Transformation der Industrie, von der Deutschland ja lebt, die zentrale Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte ist.
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Warum hält der VDA am Tempolimit fest?
Müller: Die einen fordern ein starres Tempolimit 130 auch auf den freien Strecken, andere rufen nach „freier Fahrt für freie Bürger“. Beides ist jedoch nicht die Lösung für eine zunehmend digitale Gesellschaft. Wir brauchen situationsabhängiges Fahren. Auf Autobahnen mit Tempolimit passieren übrigens nicht weniger Unfälle. Zu Unfällen kommt es in schwierigen Verkehrssituationen, zum Beispiel bei schlechtem Wetter. Klug wäre es also, wenn wir auf digitale Modelle setzten. So könnten an den vielen Mautbrücken digitale Anzeigen angebracht werden, die ein situationsabhängiges Tempolimit anzeigen.
Heißt das, auch Tempo 250 macht Sinn?
Müller: 130, 150, 180, wo zieht man die Grenze? In neuen Autos wird bereits heute die jeweils geltende Geschwindigkeitsbegrenzung angezeigt. Hier ist das situationsabhängige Tempolimit technisch bereits angelegt, damit kann die Sicherheit weiter gesteigert werden.
Wo steht die deutsche Automobilindustrie im Wettbewerb mit den Software-Schmieden wie Googles Mutterkonzern Alphabet, Apple oder auch Tesla?
Müller: Alle Unternehmen habe eigene und zum Teil sehr große Software-Einheiten aufgebaut. Wir scheuen keinen Wettbewerb – im Gegenteil, wir wollen ihn und haben hierzulande viele innovative Start-Ups. Auf der IAA Mobility im September in München sind alle große Tech-Unternehmen vertreten. Und Tesla kommt nach Deutschland, was auch für die Zulieferer eine große Chance ist. Es läuft gut.
Vor allem die Zulieferer stehen vor der Mammutaufgabe, den digitalen Wandel nun schnell zu vollziehen. Wie viele Zulieferer werden beim Wandel auf der Strecke bleiben, wie viele Jobs wird es kosten?
Müller: Ein Elektromotor hat viel weniger und andere Komponenten als ein Verbrennungsmotor. Der Wandel zur E-Mobilität wird Jobs kosten, allen Umschulungsmaßnahmen zum Trotz. Nicht jeder kann Software-Spezialist werden. Entscheidend sind deshalb jetzt die Standortbedingungen. Davon ist abhängig, wo die neuen Jobs entstehen. Wir wollen natürlich, dass das in Deutschland ist. Der beste Klimaschutz entsteht am besten Standort. Wir Deutschen haben das Auto erfunden. Und wir erfinden es ständig neu. Angst ist kein gutes Unternehmertum.
Was zeichnet das deutsche Auto in Zukunft noch aus?
Müller: Die Verbindung von Sicherheit, Effizienz und Klimaschutz. Das autonome Fahren zum Beispiel wird die Sicherheit erheblich verbessern und vielen älteren Menschen, die nicht mehr Auto fahren können, ihre Mobilität zurückbringen. Deutschland kann dabei führend werden.