Berlin. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger ist enttäuscht von den Ergebnissen des Corona-Gipfels. Er fordert eine „Entfesselungsoffensive“.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger macht wenige Stunden nach dem Corona-Gipfel aus seiner Stimmung keinen Hehl. Am Mittwoch einigten sich die Ministerpräsidenten der Bundesländer sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) darauf, den Lockdown bis zum 7. März zu verlängern.

Die Erwartungen des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) konnte die Ministerpräsidentenkonferenz nicht erfüllen, das wird schnell deutlich, als der 56-Jährige mit unserer Redaktion telefonisch aus seinem Zuhause in Heidelberg spricht.

Herr Dulger, wie haben Sie das Spitzentreffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten verfolgt?

Rainer Dulger: Genauso gespannt wie viele andere Menschen in unserem Land. Vom Ergebnis des Corona-Gipfels bin ich aber schwer enttäuscht.

Warum?

Rainer Dulger: Unternehmen und Beschäftigte haben erneut keine klare, transparente und regelbasierte Öffnungsperspektive erhalten! Das haben wir von der Politik erwartet. Es ist ernüchternd zu sehen, dass es das Bundeskanzleramt und die Staatskanzleien der Länder nicht schaffen, eine gemeinsame Öffnungsstrategie vorzulegen. Diese Öffnungsstrategie war in der letzten Konferenz am 19. Januar 2021 zugesagt worden. Und mit einem Konzept meine ich nicht ein leinenloses sofortiges Wiederaufmachen. Ich meine ein klares, evidenzbasiertes Öffnungskonzept, mit dem das wirtschaftliche Leben schrittweise und regional differenziert wieder hochgefahren wird.

Bei Schulen und Kitas droht ein Flickenteppich.

Wir leben nun mal in einem föderalen System. Deshalb ist es auch richtig, die Öffnung von Schulen und Kitas in die Hände der Länder zu geben. Aber die Antwort und die Perspektive für die Wirtschaft fehlt mir. Im Prinzip wurde kein Öffnungsszenario beschlossen, sondern ein Schließungsszenario, was auch noch hinter dem zurückgeblieben ist, was sich die Politik seit ihrer letzten Ministerpräsidentenkonferenz auf die Fahnen geschrieben hat. Was ist denn bitte in den letzten Wochen seit dem letzten Gipfel passiert und erarbeitet worden? Die Zeit hätte ausgereicht, um ein abgestimmtes, bundesweites Öffnungskonzept zu erstellen.

Seit Ende November steht Rainer Dulger als Präsident an der Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA).
Seit Ende November steht Rainer Dulger als Präsident an der Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA). © picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

Entscheidend für die Öffnung ist nun eine Inzidenz von 35 und nicht mehr 50. Ist das eine Enttäuschung für alle, die sich immer an die Maßnahmen gehalten haben?

Rainer Dulger: Es ist eine Riesenenttäuschung. Die Politik läuft mittlerweile massiv Gefahr, das Vertrauen der Bevölkerung in die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu verlieren. Dies ist umso gravierender, da es bislang in die Entwicklung der Maßnahmen keine Einbindung der Parlamente und Sozialpartner gibt. Wir brauchen eine Post-Corona-Strategie. Davon hört man seit Monaten nichts. Wir werden im Herbst eine neue Bundesregierung bekommen und dieser müssen wir einen Leitfaden mit auf den Weg geben. Dafür müssen alle Beteiligten an einen Tisch – und nicht nur die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten.

Wie stellen Sie sich das vor?

Rainer Dulger: Politiker, Wissenschaftler, Virologen, Vertreter der Wirtschaft und Gewerkschaften: Alle gehören an einen Tisch und müssen eine klare und konsequente Strategie entwickeln. Ab welcher Inzidenz darf ein Unternehmer sein Gewerbe wieder öffnen und unter welchen Auflagen? Das muss bundesweit gelten und regional umgesetzt werden.

Stattdessen wächst der Frust über die stockenden Corona-Hilfen.

Rainer Dulger: Die finanziellen Hilfen für die Unternehmen können durchaus einiges auffangen – wenn sie denn fließen. Von den angekündigten Auszahlungen ist vieles noch nicht bei den Unternehmen angekommen. Hier muss dringend nachgebessert werden.

Wirtschaftsminister Peter Altmaier bat um Entschuldigung für die Verzögerungen.

Rainer Dulger: Das ist hochanständig von ihm, aber jetzt muss es auch losgehen. Ich bin deshalb froh, dass zumindest seit gestern online die Überbrückungshilfe III gestellt werden kann und bis Ende Februar Abschlagszahlungen ausgezahlt werden sollen. Ankündigungen der Politik wie die einer „Bazooka“ sind vielleicht in der Öffentlichkeit gut angekommen, aber die dahinterstehenden Hilfen müssen auch bei den Unternehmen ankommen.

Wirtschafts- und Finanzministerium schieben sich bei der verzögerten Hilfe gegenseitig die Schuld zu. Wie bewerten Sie das Krisenmanagement der Bundesregierung?

Rainer Dulger: Es ist nicht ausschlaggebend, wer wem welche Schuld zuschiebt. Ausschlaggebend ist, was wirklich hinten dabei rauskommt. Und da gibt es leider noch großen Optimierungsbedarf.

Haben Sie Angst, dass es sich im Wahlkampfgetöse noch weiter verschlechtert?

Rainer Dulger: Es ist zu befürchten, aber ich will es nicht hoffen.

Erwarten Sie eine Insolvenzwelle?

Rainer Dulger: Die wahre Situation bei der Anzahl der Insolvenzen können wir momentan noch nicht abschätzen. Die Insolvenzantragspflicht ist zu einem Teil coronabedingt ausgesetzt und verschleiert somit die tatsächliche Zahl der Insolvenzen. Viele Hoteliers, Gastronomen, Fitnessbetriebe, Konzert- und Theaterhäuser haben die Grenze des für sie Möglichen bereits überschritten. Sie fühlen sich vergessen, ihnen fehlt die Perspektive und viele stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Die Lage ist wirklich bitterernst. Es geht hier mittlerweile um einen puren Überlebenskampf vieler Existenzen.

Große Konzern wie Lufthansa, Tui, Galeria Karstadt Kaufhof rettet der Staat. Ist das in Ordnung?

Rainer Dulger: Nehmen wir beispielsweise die Lufthansa: Eine Industrienation wie Deutschland ohne Airline – das geht nicht und ist schwer vorstellbar. Wichtig ist: Wir müssen uns überlegen, was wir brauchen, wenn diese Pandemie vorbei ist. Wir sind eine Industrie- und Exportnation und natürlich brauchen wir nach dieser Pandemie eine Airline, die uns zu unseren Kunden und unsere Kunden zu uns bringt. Das Eingreifen des Staates ist richtig, aber es muss auch eine klare Exit-Strategie geben. Und zwar nicht nur bestehend aus den finanziellen Hilfen, sondern auch aus der Verschuldung. Wir dürfen nicht zum Subventionsland werden.

Ein Weg aus der Verschuldung wären höhere Steuern…

Rainer Dulger: Das wäre der größte Fehler, den wir machen könnten. Die Erhöhung von Sozialabgaben, Sozialbeiträge und Steuern würde die Wirtschaft endgültig abwürgen. Wenn man die Sozialkassen wieder füllen und die Schulden tilgen will, dann muss die Wirtschaft brummen. Wir haben lange ein Belastungsmoratorium gefordert. Das wird jetzt nicht mehr ausreichen. Wir brauchen eine regelrechte Entfesselungsoffensive. Stattdessen kommen in der Krise weitere Richtlinien und Vorschriften, etwa zum Homeoffice oder zur Stärkung von Betriebsräten. Das sind Belastungen, die völlig unnötig sind und eine falsche Wirkung entwickeln.

Ist die schnelle Rückkehr zur Schuldenbremse richtig?

Rainer Dulger: Auch hier ist ein Weg, der nur Schwarz und Weiß kennt, nicht der richtige. Die Schuldenbremse hat sich bewährt. Jetzt müssen wir darüber reden, wie wir die Neuverschuldung zurückfahren, ohne die Wirtschaft schlagartig abzuwürgen. Es ist unrealistisch, von 180 Milliarden Euro Neuverschuldung im nächsten Jahr wieder auf Null zu springen. Der Bundeshaushalt muss für zwei, drei Jahre in die Reha gehen, um wieder auf die Beine zu kommen. Auch hier müssen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik klug miteinander über die Frage diskutieren: Was wollen wir uns leisten, was können wir uns leisten?

Ihr Nachfolger an der Spitze von Gesamtmetall, Stefan Wolf, fordert Reformen nach dem Vorbild der Agenda 2010. Wie sehen Sie das?

Rainer Dulger: Damit hat er vollkommen Recht. Nur eine neue Agenda 2010 wird nicht ausreichen. Wir brauchen nachhaltigere und weitreichendere Inhalte einer neuen Agenda. Wir brauchen eine Entfesselungsoffensive für eine „Gesellschaft 5.0“. Bei der Agenda 2010 ging es um die Liberalisierung des völlig überregulierten Arbeitsmarktes und es wurden Steuern gesenkt. Damals hatte die Regierung einen klaren Blick dafür, was man braucht, um eine gemeinsame Agenda auf den Weg zu bringen. Das brauchen wir heute wieder. Wo ist denn der Expertenkreis, der die Bundesregierung dabei unterstützt, einen Weg aus der Krise zu finden? Das findet alles nicht statt.

Warum sind Sie gegen ein Recht auf Homeoffice?

Rainer Dulger: Die Bundesregierung hat an den Sozialpartnern vorbei eine Homeoffice-Bürokratie beschlossen, die in ihrer Wirksamkeit zweifelsfrei hinter dem Handeln der Sozialpartner zurückbleibt. Sozialpartnerschaft ist immer wirksamer als bürokratischer Aktionismus. Es ist die Aufgabe von Betrieben und Beschäftigten zu schauen, wo man noch mehr mobile Arbeitsformen einführen kann. Sie werden mit keinem Gesetz die allerletzte Möglichkeit zum Homeoffice erzwingen können, wenn es an Infrastruktur und Geld fehlt. Gerade in kleinen Handwerksbetrieben ist das unglaublich schwierig.

Reicht Ihre Entfesselungsoffensive, um aus dem Schuldenberg herauszuwachsen?

Rainer Dulger: Es ist jedenfalls der richtige Weg. Wenn die Wirtschaft nicht brummt, kommt man gar nicht mehr raus.

Und warum finden Sie das Gesetz zur Stärkung der Betriebsräte unnötig?

Rainer Dulger: Das Betriebsverfassungsgesetz hat sich bewährt. Ich sehe da – vor allem in der Krise – keinen Reformbedarf. Ganz im Gegenteil. Hier wird die Krise als Argument für ein Thema vorgeschoben.

Das Lieferkettengesetz ist auf der Zielgeraden. Was kommt da auf die Wirtschaft zu?

Rainer Dulger: Wir sind hier sehr für Transparenz. Aber die Haftung bis ins letzte Glied der Lieferkette ist einfach nicht umsetzbar. Wenn man Unternehmen in Haftung bringt für Prozesse, die sie weder sehen noch steuern können, ist das ein viel zu großes Risiko für die deutsche Wirtschaft. In der aktuell vorliegenden Form ist das Lieferkettengesetz nicht umsetzbar.

Die Corona-Krise befeuert den Strukturwandel. Bekommt Deutschland das hin?

Rainer Dulger: Corona hat die Digital-Baustellen in Deutschland schonungslos offengelegt. Hier nur zwei Beispiele: Die Politik möchte, dass möglichst viele Menschen von zuhause aus arbeiten, schafft es aber nicht einen modernen Rechtsrahmen dafür zu schaffen. Ich denke da nur an das Arbeitszeitgesetz oder die Arbeitsstättenverordnung. Hier ist eine Modernisierung schon lange überfällig! Zweitens: Seit Monaten findet Schulunterricht zu einem großen Teil virtuell als Fernunterricht statt und noch immer läuft das alles andere als rund. Es fehlt an der nötigen Infrastruktur wie Laptops, schnelles Internet oder Lernplattformen. Und es fehlt an sinnvollen Konzepten für den digitalen Unterricht. Unsere digitale Infrastruktur, das Bildungssystem, das Rentensystem samt Renteneintrittsalter – all das muss auf den Tisch. Und auch bei den Kranken- und Pflegeversicherungen braucht es Reformen. Nur Beiträge erhöhen ist keine Lösung.

Die Bundesregierung hat zuletzt in punkto Strukturwandel viel auf den Weg gebracht, fördert etwa die Elektromobilität und hat ein milliardenschweres Wasserstoffprogramm aufgelegt. Reicht das?

Rainer Dulger: Wir haben in Deutschland ein Problem: Wir sind immer Erkenntnisriesen, aber Handlungszwerge. Konzepte können wir erstellen. Aber wie sieht es mit der Umsetzung aus? Das wird auch bei diesen Programmen die entscheidende Frage sein.

In der Corona-Krise treibt China die anderen Wirtschaftsmächte vor sich her. Verpassen wir den Strukturwandel?

Rainer Dulger: Wenn es eine Nation schaffen kann, wieder gleichzuziehen oder an die Spitze zu kommen, dann sind wir das. Wir sind eine Industrienation mit enormen Fähigkeiten und enormer Kraft. Aber dafür brauchen wir den richtigen wirtschaftlichen Rahmen.…

Können wir den Wettlauf um den besten Zukunftsstandort noch gewinnen?

Rainer Dulger: Wir gehören zur Spitzengruppe und werden darin bleiben. Und natürlich kann es sein, dass andere mal besser sein werden als wir und den ersten Platz einnehmen. Im Automobilsektor haben viele Angst, dass wir auf Platz zwei oder drei zurückfallen könnten. Das ist aber gar nicht so schlimm. Entscheidend ist, dass wir wieder an die Spitze kommen. Dafür müssen wir heute die Konzepte von Morgen vereinbaren und umsetzen.

Deutschland hat mit die höchsten Strompreise und Löhne, wir hinken bei Infrastruktur und Digitalisierung hinterher. Gefährdet das die Wettbewerbsfähigkeit?

Rainer Dulger: Diese Sorge ist vollkommen gerechtfertigt. Daher brauchen wir jetzt eine Entfesselungsoffensive für die Wirtschaft. Es muss jetzt daran gearbeitet werden, den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht nur fit zu halten, sondern attraktiv für die Zukunft zu machen.

Die Bundestagswahl steht bevor. Wen favorisieren Sie als Kanzlerkandidat der Union? Söder oder Laschet?

Rainer Dulger: Ich halte alle bisher zur Wahl stehenden Kandidaten für geeignet. Wichtig für uns als Spitzenverband der Deutschen Wirtschaft ist die Hoffnung, dass wir eine Regierung bekommen, die die dringend notwendigen Reformen in diesem Land mutig angeht – die habe ich ja eben kurz skizziert. Kurzum: Ich erwarte, dass nach der Wahl endlich angepackt und umgesteuert wird und die neue Regierung die von uns geförderte Entfesselungsoffensive auf den Weg bringt.

Auch bei den Grünen gibt es mit Habeck und Baerbock zwei Kandidaten.

Rainer Dulger: Eine Kandidatendebatte werde ich jetzt mit Ihnen sicher nicht führen. Wichtig sind für uns die richtigen Inhalte, auf die kommt es an.

Rechnen Sie mit einer schwarz-grünen Regierung?

Rainer Dulger: Das ist schwer zu sagen und ich war auch noch nie so gut im Hellsehen... In Krisenzeiten geht es immer auf und ab. Mal sind die Menschen mit der jetzigen Regierung zufrieden, mal sind sie es nicht. Ich bin überzeugt, dass ein wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis der weitere Umgang mit der Krise sein wird.

Haben Sie keine Sorge vor einer grünen Regierungsbeteiligung?

Rainer Dulger: Wir haben in meiner Heimat in Baden-Württemberg seit Jahren eine grün geführte Regierung – und das funktioniert gut. Auch in anderen Bundesländern funktionieren Schwarz-Grün-Bündnisse und Ampelkoalitionen. Wovor sollten wir also Angst haben?

Die Grünen sind in Berlin in einer Regierung mit Linken und SPD. Die Linke fordert eine Vermögensabgabe, die SPD kann sich das ebenfalls vorstellen.

Rainer Dulger: Eine rot-rot-grüne Regierung ist sicher etwas anderes, als die, die ich gerade skizziert habe. Natürlich existieren da skurrile Ideen, wie die einer Vermögensabgabe. Aber ich glaube nicht, dass es soweit kommen wird, dass wir mit einer Beteiligung der Linkspartei auf Bundesebene rechnen müssen.

Was hat für Sie höchste Priorität für die kommende Legislaturperiode?

Rainer Dulger: Bildung ist der Grundstein für die Zukunft und dort müssen wir endlich aus unserem Dornröschenschlaf erwachen und richtig Gas geben. Und zwar an allgemeinbildenden Schulen und an den Berufsschulen. Wir brauchen mehr Digitalisierung, eine bessere und nachhaltigere Ausstattung an den Schulen, eine gute Ausbildung und gute Bezahlung für unsere Lehrkräfte. Danach kommen Entfesselungsoffensiven für die Wirtschaft: keine Abgabenerhöhungen, keine Steuererhöhungen. Stattdessen einen eisernen Willen, die Wirtschaft zum Laufen zu bringen. Und wir brauchen Reformen bei der Infrastruktur. Daraus muss eine große Agenda für die künftige Bundesregierung werden.

Brauchen wir ein Digitalisierungsministerium?

Rainer Dulger: Wichtig ist, dass wir unsere Digitalisierungsbaustellen in Deutschland schnell angehen. Wenn das mit den bisherigen Strukturen klappt, soll es mir recht sein. Wenn ein Digitalisierungsministerium hilft, dann kann das auch eine Lösung sein.