Berlin. Auf Plattformen wie Reddit verabreden sich Privatanleger, um Hedgefonds anzugreifen. Wie Börsenexperten den Zockerkrieg einordnen.
Ein Kursanstieg um in der Spitze fast 2800 Prozent in weniger als einem Monat – bei der Aktie von Gamestop passierte zuletzt genau das. Fahnenartig schraubte sich der Kurs der Computerspiele-Einzelhandelskette in die Höhe, obwohl sie seit Jahren angeschlagen ist und zuletzt auch im Weihnachtsgeschäft nicht zu überzeugen wusste.
Und doch kletterte die Aktie der Kette, die auch in Deutschland rund 200 Filialen betreibt, von etwas über 14 Euro Anfang Januar zuletzt in der Spitze auf fast 409 Euro. Und nicht nur Gamestop erlebt einen Hype. Auch die angeschlagene US-Kinokette AMC ist schwer angesagt und hat ihren Kurs in den vergangenen vier Tagen zwischenzeitlich versechsfacht.
Privatanleger bringen Hedgefonds in Bedrängnis
Es tobt ein wahrer Zockerkrieg an den Börsen. Einigen Privatanlegern geht es dabei um mehr als nur um kurzfristige Gewinne. Sie ziehen in einen Kampf gegen das Finanzsystem. Ihre Gegner: Finanzfirmen, die mit alternativen Geldanlagen, sogenannten Hedgefonds, auf fallende Kurse am Markt spekulieren.
Nach den spektakulären Kursanstiegen von Gamestop und Co liegt das Momentum aktuell auf der Seite der Privatanleger. So musste in einer der größten Hedgefonds-Rettungsaktionen seit mehr als 20 Jahren die New Yorker Firma „Melvin Capital“ nach ihrer Wette auf fallende Kurse bei Gamestop mit einer Finanzspritze von 2,75 Milliarden Dollar gerettet werden.
Anlegerschützer kritisiert Marktmissbrauch
Ein Desaster für die Hedgefonds, die Milliarden verzockten und sich selbst Geld liehen mussten, um nicht pleite zu gehen. Aber auch eine Katastrophe für die Börse, findet Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW).
„Ich habe ein lachendes und ein weinendes Auge. Natürlich ist eine gewisse Genugtuung dabei, wenn sich Privatanleger wehren“, sagte Tüngler unserer Redaktion. Und doch sei es ein klarer Fall von Marktmissbrauch. Die Kernfunktion der Börse, die Suche nach einem fairen Preis, sei außer Kraft gesetzt.
Comdirect-Experte: „Es geht hier nicht um Groß gegen Klein“
„Die gemeinsamen Absprachen, um den Kurs in die Höhe zu treiben, sind illegal“, stellt Andreas Lipkow, Finanzmarktexperte der Comdirect Bank, fest. Er warnte vor einer „Heroisierung“: „Es geht hier nicht um Groß gegen Klein. Es geht um einen Akt der Marktmanipulation, um schiere Großabsprachen“, sagte Lipkow unserer Redaktion.
Das Problem: Die Anleger verabreden sich anonym, seien für Aufsichtsbehörden kaum greifbar. „Daher stehen die Aufsichtsbehörden der Menge an Nutzern, die mitmachen, als zahnlose Tiger gegenüber“, sagt der Comdirect-Experte.
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Shortseller haben eine bereinigende Wirkung
Shortseller, die auf fallende Kurse wetten, seien zudem nicht die Bösen, stellt Lipkow klar. „Im Gegenteil. Sie bringen viel in die Waage, decken Missstände auf und sorgen zudem für die nötige Liquidität, die der Markt braucht. Wäre das Shortselling nicht so stark, würde der Markt nicht funktionieren.“
Die wichtige Rolle von Shortsellern wurde etwa im Wirecard-Skandal deutlich, als bereits sehr früh einige Leerverkäufer dem mutmaßlichen Betrug des Unternehmens auf die Schliche gekommen waren. Zuletzt hatten Shortseller auch den Lkw-Bauer und Tesla-Konkurrenten Nikola ins Visier genommen.
Eine Mischung aus Profis und Anfängern
Berauscht von ihrem Erfolg bei Gamestock und AMC laufen die Absprachen derweil munter weiter. Auch die Aktien von Blackberry und Nokia boomten, selbst den Silbermarkt greift die Reddit-Gemeinde an. „Es sind viele clevere Menschen dabei. Für einen Short-Squeeze reicht es nicht, mal eben ein Börsenbuch gelesen zu haben. Das sind Profis“, sagt Lipkow.
Aber es gebe eben auch die Amateure. „Aktuell nimmt sich die Community die Nokia-Aktie vor, offenbar weil viele denken, dass Nokia ein amerikanisches Unternehmen sei, das gerettet werden müsste“, sagt der Comdirect-Experte.
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Die „Gamifizierung“ des Aktienmarktes
Lipkow fühlt sich erinnert an die Zeit des Neuen Marktes, zu Beginn der 2000er, als Internetfirmen einen Boom auslösten, ehe die Blase platzte und in sich zusammenfiel. Von diesem Schock hat sich die deutsche Aktienkultur bis heute nicht wirklich erholt.
Auch heute würden viele neue Anleger an den Markt kommen, die „über wenig oder gar kein Wissen am Aktienmarkt verfügen“, sagt Lipkow. Stattdessen handeln sie nach Tipps, die sie in Foren lesen, meint der Finanzexperte: „Wir erleben eine Gamifizierung des Aktienmarktes. Das Zocken hat stark zugenommen.“
Der Fall wird zum Politikum
Unternehmen und die Politik ringen mit dem Umgang. Der Messanger-Dienst Discord verbannte die Gruppe „r/WallStreetBets“ von seiner Plattform, ruderte nach einem Shitstorm aber zurück. Auch Facebook sperrte eine Gruppe.
Neobroker wie Robinhood, aber auch das Berliner Fintech Trade Republic, belegten die umworbenen Aktien mit einem Kaufverbot – der „Super-GAU“, findet Anlegerschützer Tüngler. „In einer solch intensiven Situation entziehen sie den Anlegern die Grundlage, frei agieren zu können“, sagte er.
Pikant: Trade Republic verkaufte die Aktion seinen Nutzern als Schutz vor den entstehenden Risiken. Mit Anlegerschutz habe das aber nichts zu tun, sagt Tüngler. Im Gegenteil. „Es ist arrogant und bevormundend“, sagte Tüngler. Auch im Netz erntete Trade Republic massive Kritik und ruderte zurück. Der Handel mit den Aktien ist wieder möglich.
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Erste Klagen gegen Robinhood
Dennoch könne es für manche Neobroker ein Nachspiel geben, meint Tüngler: „Es stellt sich die Frage nach der Grundlage: Ist dieser Fall in den AGBs festgehalten, dann entsteht ein Reputationsschaden. Was ist ein solcher Anbieter dann noch wert? Ist es nicht festgehalten, haben wir ein ernstes rechtliches Problem.“ In den USA ist man schon einen Schritt weiter, erste Klagen gegen Robinhood wurden bereits eingereicht.
Und auch die Wut bleibt. Vor der New Yorker Wall Street wurde unter dem Hashtag #eattherich („verspeist die Reichen“) demonstriert.
US-Kongress wird sich mit dem Fall befassen
Mit ihrer Jagd auf die Hedgefonds hat sich die junge Generation nun jedenfalls Gehör verschafft. Der künftige Vorsitzende des Bankenausschusses im US-Senat, Sherrod Brown, kündigte eine Anhörung im US-Kongress an.
Es sei an der Zeit für die Börsenaufsicht SEC und den Kongress dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft für alle funktioniere, nicht nur für die Wall Street. „Die Leute an der Wall Street scheren sich nur um die Regeln, wenn sie diejenigen sind, denen es wehtut“, hieß es in Browns Statement.