Hamburg. Sönke Fock, Chef der Hamburger Arbeitsagentur, gibt eine Prognose ab, die zumindest ein wenig Mut macht.

Es war ein wohl einmaliges Jahr für den Hamburger Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahrzehnten. Die Zahl der Erwerbslosen in der Stadt hat 2020 wegen der Corona-Pandemie massiv zugelegt, nachdem sie zuvor jahrelang gesunken war. Doch es hätte noch viel schlimmer kommen können. Nur das Instrument der Kurzarbeit hat verhindert, dass in Hamburg die Arbeitslosigkeit auf mehr als 100.000 Jobsuchende steigt. Die Kurzarbeit wird auch im nächsten Jahr noch zu einem großen Teil die Entwicklung am Arbeitsmarkt prägen, davon ist Sönke Fock, der Chef der Arbeitsagentur Hamburg, überzeugt. Im Abendblatt-Interview spricht er über die Perspektiven für den Hamburger Arbeitsmarkt im kommenden Jahr, Langzeitarbeitslose, finanzielle Einbußen durch die Kurzarbeit und wie Schulabgänger unter Pandemiebedingungen zu einem Ausbildungsplatz kommen. Und Fock wagt eine Prognose, die zumindest ein wenig Mut macht.

Hamburger Abendblatt: Mit welchen Einbrüchen am Arbeitsmarkt lässt sich die Corona-Pandemie am ehesten vergleichen?

Sönke Fock: Ich habe 1990 bei der Bundesagentur angefangen, aber in diesen drei Jahrzehnten noch nichts Vergleichbares erlebt. Es gab immer wieder Einschnitte am Arbeitsmarkt, auch eine höhere Arbeitslosigkeit in Hamburg als jetzt, etwa im Jahr 2005 mit 98.000 Jobsuchenden im Jahresdurchschnitt. Die Finanzkrise 2008/09 habe ich bei der Arbeitsagentur in Berlin erlebt. Die Auswirkungen waren bundesweit aber nur auf bestimmte Branchen konzentriert. Dass ganze Wirtschaftsbereiche geschlossen werden, ist ohne Beispiel und deshalb nicht mit anderen Wirtschaftskrisen vergleichbar.

Wie fällt Ihre Bilanz für das abgelaufene Jahr aus?

Die Prognosen aus dem Vorjahr wurden von der Pandemie komplett einkassiert. Wir hatten zwar auf Grund der schwächeren Konjunktur eine stagnierende bis leicht steigende Arbeitslosigkeit erwartet, Corona war jedoch nicht vorhersehbar. Ich rechne mit 80.500 Arbeitslosen als durchschnittlichen Monatswert für 2020, nachdem wir im Juli mit über 91.000 den Höchststand in diesem Jahr erreicht hatten. Der Durchschnittswert für 2019 lag bei 64.800 Arbeitslosen.

Wie wird sich die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr entwickeln?

Ich rechne nicht mit einem gravierenden Anstieg, denn nach wie vor federt die Kurzarbeit viel ab. Damit dürfte sich die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Hamburg auch im nächsten Jahr um rund 80.500 bewegen. Im ersten Quartal kann es sein, dass wir die hohen Zahlen wie im Sommer 2020 noch einmal erreichen. Im weiteren Jahresverlauf, wenn die Impfung Fahrt aufnimmt, werden sich auch deutliche Erholungstendenzen zeigen - und die Arbeitslosigkeit wird wieder sinken. Gastronomie, Einzelhandel und Hotellerie werden sich schnell erholen, wenn die Beschränkungen fallen. Und die dafür nötigen Arbeitskräfte stehen durch die Kurzarbeit auch sofort zur Verfügung. Andere Branchen wie die Luftfahrt und der Messebau brauchen für die wirtschaftliche Erholung einen längeren Vorlauf.

Welche Rolle spielt die Kurzarbeit?

Die Sonderregeln, durch die den Betrieben der Lohn und die Sozialabgaben ersetzt werden, wurden bis Ende 2021 verlängert. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es dadurch gelungen ist, einen gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Die tatsächliche umgesetzte Kurzarbeit in den Betrieben sehen wir auf Grund der Abrechnungsmodalitäten nur mit großer zeitlicher Verzögerung. Die letzten abgerechneten Zahlen gibt es für den Monat Mai. Damals waren 194.000 Beschäftigte in 16.000 Betrieben in Kurzarbeit. Eine Hochrechnung für August geht von 105.000 Beschäftigten in knapp 10.000 Hamburger Betrieben aus. Inzwischen wird die Zahl aber wieder deutlich gestiegen sein, wenn man die wirtschaftlichen Einschränkungen für Hotels und Gastronomie ab November und für den Einzelhandel ab Mitte Dezember berücksichtigt. Schon jetzt ist jeder neunte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Hansestadt in Kurzarbeit. Bis Ende November haben wir 1,1 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld ausgezahlt. Ohne die Kurzarbeit würde die Arbeitslosigkeit in Hamburg wesentlich höher ausfallen.

Welche Branchen sind besonders von Kurzarbeit betroffen?

Während des ersten Lockdowns betraf es die Dienstleistungen mit rund 38.200 Beschäftigten, gefolgt vom Handel und den Kfz-Werkstätten mit 31.000, dem verarbeitenden Gewerbe mit 24.500 und die Gastronomie mit 23.300 Mitarbeitern.

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Wie viel verdient ein verheirateter Koch bei Kurzarbeit?

Wenn man von einem Bruttogehalt von 2600 Euro ausgeht, liegt das reguläre Nettogehalt bei 1754 Euro. Bei voller Kurzarbeit, also wenn wegen Schließung nicht gearbeitet wird, sind es 1052 Euro, also rund 700 Euro weniger, sofern das Unternehmen nicht aufstockt. Wenn die Kurzarbeit länger anhält, wird das Kurzarbeitergeld ab dem vierten Monat auf 1227 Euro und ab dem siebenten Monat auf 1403 Euro aufgestockt. Bei Langzeitkurzarbeit betragen die monatlichen Einbußen ab dem siebten Monat noch etwa 350 Euro im Monat.

Wie viele Kurzarbeiter müssen mit Hartz IV aufstocken?

Bei etwa 5500 Kurzarbeitern reicht das Geld auf Basis der gesetzlichen Regelungen nicht zum Lebensunterhalt. Sie haben zusätzliche Leistungen beim Jobcenter beantragt und erhalten. Zusätzlich haben sich dort zwischen März und November 4400 Soloselbstständige gemeldet, um Hartz IV zu beantragen.

Besteht die Gefahr, dass ein neuer Sockel an Langzeitarbeitslosen entsteht?

Diese Gruppe ist nicht homogen. Sie besteht vor allem aus Arbeitssuchenden, die schon älter, an- oder ungelernt sind, die deutsche Sprache nicht richtig beherrschen oder aber gesundheitliche Einschränkungen aufweisen. Insgesamt hat Hamburg 23.600 Langzeitarbeitslose, ein Anstieg von 44 Prozent zum Vorjahr. Es ist zwar so, dass Ungelernte in der Krise schnell ihren Arbeitsplatz verlieren. Wenn im nächsten Jahr erste Lockerungen wieder greifen, werden auch Langzeitarbeitslose Einstellungschancen bekommen. Außerdem erwarte ich, dass ungelernte Mitarbeiter die beschäftigungslose Zeit im und mit dem Betrieb zur beruflichen Qualifizierung oder sogar zur Ausbildung nutzen. Deshalb sehe ich zwar Risiken, aber auch Chancen, dass sich ihre Zahl nicht wesentlich erhöht.

Wie ist die Lage am Ausbildungsmarkt?

Anders als im Herbst/Winter 2019, als die Jugendlichen ihre Bewerbungen noch ohne Corona-Bedingungen starteten, ist es in diesem Ausbildungsjahr völlig anders: Persönliche Gespräche zur Orientierung und Vorstellung bei Arbeitgebern oder aber Schulpraktika in den Betrieben fanden in der Regel nicht statt. Alle Ausbildungsmessen mussten abgesagt werden. Stattdessen tauschen sich nun alle Akteure per Videokonferenz oder auch telefonisch aus. Das läuft gut, aber diese Kommunikationswege ersetzen nicht das direkte persönliche Gespräch auf einer Messe oder im Betrieb mit dem Meister. Als Erfolg sehe ich es deshalb an, dass in Hamburg über 12.300 betriebliche Ausbildungsverträge unterschrieben wurden. Auf der Bewerberseite verzeichneten wir mit 8100 Jugendlichen einen Rückgang von gut sieben Prozent im Vorjahresvergleich. Diesem Verlust wollen wir durch eine digitale Berufsberatung entgegenwirken. Ausbildungsbewerbern möchte ich ans Herz legen, sich rechtzeitig an die Ausbildungsbetriebe oder unsere Berufsberater zu wenden. Aktuell bieten wir 6000 Ausbildungsstellen für 2021 an. Bis Ende September 2021 erwarten wir noch weitere 4000 freie Lehrstellen aus der Hamburger Wirtschaft.

Verändert Corona den Fachkräftemangel?

Wer im nächsten Jahr erst mit seiner Ausbildung oder einem Studium startet, muss nicht fürchten, keinen Arbeitsplatz zu finden. Nach drei Jahren wird sicherlich die Pandemie weitgehend überwunden sein und trotz Corona hat sich am Fachkräftemangel nichts geändert. Unternehmen sollten auch in diesen schwierigen Monaten ihre Fach- und Führungskräfte im Betrieb halten. Allein in Hamburg werden innerhalb der kommenden zehn Jahre etwa 170.000 dieser berufserfahrenen Beschäftigten in den Ruhestand gehen. Auch wenn derzeit eine deutlich geringere Nachfrage nach Fachkräften besteht, wird die demografische Lücke mit den heutigen jungen ­Erwachsenen nicht voll ausgefüllt werden können.