Berlin. Die deutsche Wirtschaft ist stärker als erwartet gewachsen. Das könnte die Folgen des Lockdowns abfedern. Aber Unsicherheiten bleiben.

Der Frust, die Enttäuschung – sie ist bei denen, die ab Montag im Lockdown ihre Ladentüren schließen müssen, stark präsent. Doch in die für das öffentliche Leben düsteren Novemberaussichten mischt sich ein Hauch Hoffnung.

Die deutsche Wirtschaft scheint mit der Corona-Pandemie weit besser umgehen zu können als erwartet. Und auch die erneuten Ladenschließungen können wohl abgefedert werden.

Rezession womöglich weniger schlimm als 2009

Damit rechnet zumindest die Bundesregierung in ihrer am Freitag vorgestellten Herbstprojektion, mit der sie das Wirtschaftswachstum für die kommenden Monate bemisst. Um 5,5 Prozent wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) demnach in diesem Jahr schrumpfen.

Damit führt die Corona-Krise zwar zu einer der schwersten Rezessionen der deutschen Nachkriegszeit – es wäre aber ein leicht geringerer Abschwung als in der Wirtschaftskrise 2019, als das BIP um 5,7 Prozent sank. „Spätestens im Jahr 2022 werden wir nach jetzigen Prognosen die Einbußen dieser Pandemie ausgeglichen haben“, sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) in Berlin.

Dem historischen Abschwung folgt ein historischer Aufschwung

Die Zuversicht, dass es doch nicht so schlimm wird wie ursprünglich angenommen – im Frühjahr war die Bundesregierung noch von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 6,3 Prozent ausgegangen –, liegt vor allem an den zurückliegenden drei Monaten, in denen die Wirtschaft wieder brummte. Gemessen im Vorjahresvergleich liegt das Wachstum im dritten Quartal nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes zwar immer noch um 4,1 Prozent niedriger. Doch gegenüber dem historischen Einbruch im zweiten Quartal des aktuellen Jahres zog die Wirtschaft um 8,2 Prozent an – ein Rekordanstieg.

„Das starke Wachstum zeigt, wie wirkungsvoll eine groß angelegte, schnell verabschiedete Konjunkturpolitik sein kann. Die Politik der Bundesregierung aus dem Frühjahr und Frühsommer hat entscheidend zu der Erholung im dritten Quartal beigetragen“, sagte Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), unserer Redaktion.

Auch Dullien hält es für realistisch, dass die Wirtschaft 2022 auf das Vorkrisenniveau zurückkehren kann. „Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es gelingt, mit den Kontaktbeschränkungen im November das Infektionsgeschehen wieder in den Griff zu bekommen, dass die Grenzen offen gehalten werden und die Lieferketten intakt bleiben und dass es zu keinen neuen massiven Rückschlägen bei unseren Handelspartnern kommt“, sagte der Ökonom.

IMK-Direktor Sebastian Dullien hält eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau im Jahr 2022 für realistisch.
IMK-Direktor Sebastian Dullien hält eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau im Jahr 2022 für realistisch. © imago images/Jürgen Heinrich

Altmaier: „Stehen am Scheideweg“

Der Aufschwung könnte die Folgen aus dem erneuten Lockdown abfedern. Philipp Steinberg, Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik im Bundeswirtschaftsministerium, beziffert den durch die erneuten Ladenschließungen in Gastronomie, Hotellerie, Kultur- und Freizeitbetrieben sowie bei verschiedenen Dienstleistern entstehenden Wertschöpfungsverlust auf acht Milliarden Euro.

Trotzdem geht die Bundesregierung davon aus, dass die Wirtschaft auch im vierten Quartal weiter zulegen wird – vorausgesetzt, das Infektionsgeschehen normalisiert sich wieder. „Wir stehen an einem Scheideweg. Das Pendel kann in die eine oder andere Richtung ausschlagen“, sagte Altmaier.

Hoffnung liegt auf offenen Grenzen und Schulen

Dass die Bundesregierung trotz der sich eintrübenden Stimmung innerhalb der Unternehmen und der Verzweiflung in den vom Lockdown betroffenen Branchen an eine weitere positive Entwicklung glaubt, hat vielseitige Gründe. Zum einen leistet sich der Bund ein zehn Milliarden Euro schweres Nothilfeprogramm für den November, mit dem der schlimmste wirtschaftliche Schaden für die Unternehmen abgewandt werden soll. Zum anderen sind – im Gegensatz zum Frühjahr – dieses Mal die Lieferketten intakt.

Das verarbeitende Gewerbe kann weiterproduzieren, der Einzelhandel bleibt geöffnet und die Industrie arbeitet dank der steigenden Exportnachfrage wieder auf Hochtouren. Schulen und Kitas bleiben geöffnet, das entlastet berufstätige Eltern. Mut macht dabei vor allem der Blick auf China. Dort wächst die Wirtschaft bereits wieder im Jahresvergleich – und beflügelt so die Hoffnungen der deutschen Auto- und Maschinenbauer auf eine schnelle Erholung.

An den Finanzmärkten bleibt die Unsicherheit bestehen

An den Finanzmärkten allerdings verpuffte die aufkeimende Hoffnung. Der Deutsche Aktienindex (Dax) hat binnen zehn Tagen mehr als zehn Prozent verloren. „Das dynamische Infektionsgeschehen schürt wieder große Sorgen. Im Gegensatz zum Frühjahr wissen wir aber, womit wir es zu tun haben, daher halte ich einen durch Panikverkäufe ausgelösten Crash wie im März für unwahrscheinlich“, sagte Analyst Timo Emden von Emden Research unserer Redaktion.

Einen raschen Anstieg zurück in Richtung der 13.000-Punkte hält Emden für unwahrscheinlich. „Es gibt positive Nachrichten, etwa die guten Zahlen aus dem dritten Quartal oder auch die zugesicherten Hilfen für den Teil-Lockdown, aber bei steigenden Infektionszahlen kann der leichte Optimismus schnell kippen“, sagte Emden.

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IW-Direktor Hüther rügt Bundesregierung

Skeptisch zeigt sich trotz der guten Zahlen Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln). Zwar falle der Aufschwung stärker als erwartet aus, für die Zukunft bedeute dies aber noch nichts. „Es mangelt der Bundesregierung an einer langfristigen Strategie“, rügt Hüther. „In den vergangenen sechs Monaten wurde es versäumt, digital aufzustocken und sich klare Konzepte zu überlegen“, sagte der IW Köln-Direktor unserer Redaktion.

Der Bundesregierung sei es nicht gelungen, die Unsicherheit zu nehmen. Niemand wisse, wie es nach dem Lockdown im Dezember weitergehe. „Unsicherheit ist das größte Gift, das die Wirtschaft haben kann“, sagte Hüther. „Wenn die wirtschaftliche Erholung anhalten soll, dann ist es essenziell, dass die Grenzen und Schulen geöffnet bleiben.“

IW-Direktor Michael Hüther kritisiert die Bundesregierung dafür, dass sie es nicht geschafft habe, die Unsicherheit zu nehmen.
IW-Direktor Michael Hüther kritisiert die Bundesregierung dafür, dass sie es nicht geschafft habe, die Unsicherheit zu nehmen. © picture alliance / dpa | Tim Brakemeier