Berlin. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sieht „dringenden Handlungsbedarf“ in der Pandemie – und hat einen Rat zur Kanzlerkandidatur.
Peter Altmaier nimmt Platz im Videoraum des Wirtschaftsministeriums, hinter sich die deutsche und die europäische Flagge, vor sich zwei Flaschen Coca-Cola. Interviews gibt der CDU-Politiker gerade lieber aus der Distanz, um sich vor dem Coronavirus zu schützen. Altmaiers Botschaften sind brisant.
Die Infektionszahlen in Deutschland steigen sprunghaft. Geht bald wieder das ganze Land in den Lockdown?
Peter Altmaier: Die Lage ist dramatisch. Und leider hat sich der deutliche Anstieg bei den Neuinfektionen schon im August abgezeichnet. Die Ministerpräsidenten haben bei ihrer letzten Sitzung wichtige Beschlüsse gefasst, deren Wirksamkeit wir jedoch noch nicht sehen können, weil zu wenig Zeit vergangen ist. Für mich steht fest: Wir haben dringenden Handlungsbedarf – sowohl zum Schutz der Gesundheit als auch, um den Erholungsprozess der deutschen Wirtschaft nicht zu gefährden.
Erkennbar ist vor allem, dass die Länder sehr unterschiedlich handeln.
Altmaier: Ich wünsche mir, dass Bund und Länder in größerer Einmütigkeit in den nächsten Tagen die notwendigen Beschlüsse fassen. Wir können uns Flickenteppiche von Regelungen nicht länger leisten. Wir müssen eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus verhindern. Einen neuen flächendeckenden Lockdown darf es nicht geben und ich halte ihn auch nicht für erforderlich. Es kommt auf entschiedenes Handeln an - dort, wo es notwendig ist.
Sie haben Anfang September eine V-Kurve in die Kameras gehalten, die auf einen glimpflichen Verlauf der Wirtschaftskrise schließen ließ. Sind Sie immer noch so optimistisch?
Altmaier: Wir werden in der nächsten Woche die Herbstprojektion der Bundesregierung vorstellen. Was das Jahr 2020 angeht, kann man davon ausgehen, dass die Entwicklung weitgehend so eintritt, wie sie prognostiziert wurde. Die Wirtschaft wird weniger stark schrumpfen, als noch vor einem halben Jahr zu befürchten war. Aber: Die positiven Konjunkturannahmen, die wir für das Jahr 2021 gemacht haben – also ein substanzielles Wachstum in der Größenordnung von mindestens vier Prozent – stehen natürlich unter dem Vorbehalt, dass es uns gelingt, die hohen Infektionszahlen wieder zu senken.
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Sie planen neue Hilfen für Freiberufler und Selbstständige. Können Sie sich damit in der Regierung durchsetzen?
Altmaier: Wir sind dabei, die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Überbrückungshilfen bis Mitte 2021 zu klären. Mir ist es wichtig, dass wir zielgerichtet Hilfen für diejenigen Branchen und Unternehmen verstärken, die in besonders starker Weise von der Corona-Pandemie betroffen sind. Das haben die Ministerpräsidenten auf meinen Vorschlag hin auch so beschlossen. Ich werde nun einen ausgewogenen Vorschlag machen und hoffe, dass wir schnell zu einer gemeinsamen Linie finden.
Konkret dringen Sie auf einen Unternehmerlohn, eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für Solo-Selbstständige. Was versprechen Sie sich davon?
Altmaier: Die Frage ist doch: Was ist mit Unternehmern, die ihre Tätigkeit in der eigenen Wohnung ausüben, wenig Betriebskosten und Corona-bedingt keinen Umsatz haben? Das ist ein Graubereich, den unsere aktuellen Programme nicht ausreichend abdecken und für den wir eine Lösung brauchen. Beim Unternehmerlohn kann man sehr wohl Lösungen finden – und das hat nichts zu tun mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Wir haben ein Interesse daran, dass Künstler, Kreative oder Konzertveranstalter nicht aufgeben müssen, nur weil wir Corona haben. Das wäre ein erheblicher Verlust an kultureller Vielfalt in Deutschland.
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Beneiden Sie manchmal den Gesundheitsminister um seine Sondervollmachten in der Pandemie?
Altmaier: Ich bin mit den Kompetenzen, die der Wirtschaftsminister heutzutage hat, sehr einverstanden. Im Übrigen kann ich die Diskussion über die Verordnungsmöglichkeiten des Kollegen Jens Spahn nicht nachvollziehen. Das vom Parlament beschlossene Infektionsschutzgesetz ermächtigt zu Verordnungen. Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem der Kollege Spahn seine Befugnisse überschritten oder missbräuchlich angewandt hätte.
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Ist der Vorwurf von Bundestagsabgeordneten, das Parlament sei in der Corona-Krise kaltgestellt, aus der Luft gegriffen?
Altmaier: Meine Hoffnung ist, dass wir uns auf einen starken gemeinsamen Standpunkt von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat verständigen können, was die Beteiligung an Entscheidungen zu allen wesentlichen Corona-Fragen angeht. Das erwarten auch die Menschen von uns, und diese Erwartung dürfen wir nicht enttäuschen.
Wird eher der Föderalismus zum Problem? Selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder will Länder-Kompetenzen an den Bund abgeben ...
Altmaier: Von Franz Josef Strauß stammt ein kluges Zitat: „Wir Bayern müssen bereit sein, wenn die Geschichte es erfordert, notfalls die letzten Preußen zu sein.“ Was Strauß damit zum Ausdruck bringen wollte, findet sich auch in dem Vorstoß von Markus Söder: Ein Plädoyer für mehr Gemeinsamkeit. Entscheidungen eines einzelnen Bundeslandes können Auswirkungen auf alle anderen Bundesländer haben. Deshalb brauchen wir dringend mehr gemeinsame Entscheidungen: Entweder durch alle Länder zusammen oder - wo das zu schwerfällig ist - auf Bundesebene, wo die Länder ja durchaus beteiligt sind. Das ist gerade in einer Pandemie diesen Ausmaßes ein sehr kluger und nachvollziehbarer Gedanke.
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Franz Josef Strauß war auch der erste Kanzlerkandidat der CSU. Wie lange kann sich die Union noch Zeit lassen mit der Nominierung des Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl?
Altmaier: Ich bin davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Bürger gerade ganz andere Sorgen hat als die Aufstellung von Kanzlerkandidaten. Die sehr frühe Nominierung von Olaf Scholz als SPD-Bewerber hat die Sozialdemokraten ebenfalls nicht vorangebracht. Die Bürger haben die Erwartung, dass wir jetzt nicht über parteipolitische Interessen und Gegensätze nachdenken, sondern über die Frage, wie wir gemeinsam die Corona-Krise bewältigen und die Wirtschaft wieder ankurbeln können.
Wolfgang Schäuble sagt, die Entscheidung soll nicht vor Ostern fallen.
Altmaier: Es gibt keinerlei Notwendigkeit, die Nominierung unseres Kanzlerkandidaten überstürzt vorzunehmen. Wir sollten uns in den nächsten Monaten auf das konzentrieren, was Vorrang hat: Gesundheit und wirtschaftlicher Aufschwung. Die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur kommt im April oder Mai noch früh genug.
Wie wichtig ist es, dass der CDU-Parteitag und die Wahl des neuen Vorsitzenden noch in diesem Jahr stattfinden?
Altmaier: Als Mitglied des CDU-Bundesvorstands kann ich sagen, dass die CDU im Zweifel das Staatsinteresse immer über das Parteiinteresse gestellt hat. Deshalb kann sich die Entscheidung, ob ein Parteitag Anfang Dezember angesichts der Corona-Situation stattfinden soll, nur an einer Frage ausrichten: Dem Pandemiegeschehen in Deutschland. Im Augenblick sind die Zahlen viel zu hoch. Nirgendwo in der Republik finden größere Veranstaltungen statt.
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