Berlin. Der Wirecard-Bilanzskandal spitzt sich zu, es geht um die Existenz des einstigen Dax-Überfliegers. Konzernchef Braun muss weichen.
Aschheim ist ein beschauliches Örtchen, knapp 10.000 Einwohner hat die oberbayerische Gemeinde. Doch in diesen Tagen wird der Münchner Vorort zum Schauplatz eines Wirtschaftskrimis. Es geht um Schuldzuweisungen, Intransparenz und 1,9 Milliarden Euro, die verschwunden sein sollen.
In Aschheim hat der Zahlungsdienstleister Wirecard mit knapp 5000 Beschäftigten seinen Sitz. Spätestens seit dem Aufstieg 2018 in den Deutschen Aktienindex (Dax) galt Wirecard als technologischer Hoffnungsträger Deutschlands.
Wirecard erlebt historische Kursverluste
Wirecard verdient einen Großteil seines Umsatzes damit, im Auftrag von Drittfirmen bargeldlose Zahlungen abzuwickeln und dafür eine Provision zu erhalten. Als Start-Up aus der Finanzbranche, ein sogenanntes Fin-Tech, regte es die Fantasie der Anleger von einem zukunftsträchtigen Markt an. Schon 2018 war Wirecard mehr wert als die Deutsche Bank, am Ende musste die Commerzbank zugunsten des Aufsteigers aus dem Dax weichen. Zu Hochzeiten vor eineinhalb Jahren war die Aktie fast 200 Euro wert.
Doch mit dem märchenhaften Aufstieg ist es nun wohl vorbei. Schon vor einem Jahr sah sich Wirecard von der britischen Wirtschaftszeitung „Financial Times“ Vorwürfen der Bilanzfälschung ausgesetzt. Wirecard hingegen drehte damals den Spieß um und bezichtigte die „Financial Times“ der Marktmanipulation.
Seitdem fuhr der Aktienkurs von Wirecard Achterbahn, mal war das Papier über 165 Euro wert, dann wieder knapp 100 Euro. Bis zum gestrigen Donnerstag schwankten die Werte stark. Seitdem kennt die Wirecard-Aktie nur noch eine Richtung: bergab.
Am Donnerstag büßte die Wirecard-Aktie 62 Prozent ihres Wertes ein und verzeichnete damit hinter dem Absturz der Münchener Bankenholding Hypo Real Estate in der Finanzkrise 2008 mit 73,9 Prozent den zweitgrößten Tagesverlust in der Geschichte des Dax. Am Freitag ging die Talfahrt rasant weiter, das Wertpapier war zwischenzeitlich nur noch 19,50 Euro wert. Der Konzernchef Markus Braun musste seinen Posten räumen, die Zukunft des Unternehmens ist ungewiss.
Philippinische Bank führte Wirecard nicht als Kunde
Die Vorwürfe der Bilanzfälschung gegen das Fintech haben sich erhärtet. Zweimal hatte Wirecard in diesem Jahr bereits seinen Jahresbericht verschoben. Am Donnerstag verweigerte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (E&Y) dem Konzern das Testat des Jahresabschlusses erneut. Konkret geht es um 1,9 Milliarden Euro, die ein Treuhänder auf zwei asiatischen Konten verwalten soll. Die Wirtschaftsprüfer bezweifeln allerdings, dass dieses Geld überhaupt existiert. Sie vermuten eine Täuschungsabsicht.
In dieser Ansicht dürften sie bestärkt worden sein. Die philippinische Bank BDO Unibank, bei der angeblich eines von zwei suspekten Treuhandkonten für Wirecard geführt wurde, teilte am Freitag mit, dass das deutsche Unternehmen kein Kunde sei: „Das Dokument, in dem die Existenz eines Wirecard-Kontos bei BDO behauptet wird, ist ein manipuliertes Dokument, das gefälschte Unterschriften von Bankangestellten trägt“, hieß es in der Stellungnahme und weiter: „Der Fall ist an die Zentralbank der Philippinen berichtet worden.“
Wirecards Schicksal liegt jetzt in den Händen der Banken
Die Nachricht brachte das Fass zum Überlaufen, der Aktienkurs von Wirecard sackte zeitweise über 40 Prozent ab. Kurz darauf teilte Wirecard mit, dass der umstrittene Vorstandschef Markus Braun mit sofortiger Wirkung zurückgetreten sei und der US-Manager James Frei, der am Abend zuvor in den Vorstand berufen wurde, interimsweise seine Tätigkeit übernehme.
Den Aktienkurs stabilisierte die Nachricht, er bewegte sich am frühen Abend wieder knapp unter 25 Euro. Die existenziellen Sorgen des Unternehmens löst es aber nicht.
Die Zukunft von Wirecard, das sich selbst als Opfer sieht und am Donnerstag Anzeige gegen Unbekannt erstattete, liegt nun in den Händen von Banken. Wirecard hatte bis Freitag Zeit, sein Testat zum Jahresbericht des vergangenen Jahres vorzulegen. Andernfalls hätten die Banken eine Berechtigung, Kreditlinien über zwei Milliarden Euro aufzukündigen, teilte Wirecard mit.
Nach einer Schätzung der US-Bank Morgan Stanley würde Wirecard in diesem Fall nur noch über liquide Mittel von 220 Millionen Euro verfügen. Bis zum Abend lag kein Testat vor. Seinen Anlegern machte Wirecard aber Hoffnung: Man befinde sich in „konstruktiven Gesprächen“ mit den kreditgebenden Banken.
Anlegerschützer schätzt Gefahr einer Übernähme als gering ein
Sollten die Gespräche erfolgreich verlaufen, ist wohl zumindest eine Insolvenz vorerst vom Tisch. Allerdings hat das Unternehmen in den letzten Tagen massiv an Wert verloren, gegen einen feindlichen Übernahmeversuch wäre es nur bedingt gewappnet. Ein solches Szenario hält Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), derzeit allerdings für unwahrscheinlich.
„Ich bezweifle, dass ein Konkurrent dieses heiße Eisen jetzt anfassen wird. Niemand kann sagen, was Wirecard wirklich wert ist“, sagte Tüngler unserer Redaktion. Den Rücktritt von Konzernchef Markus Braun wertete er als „folgerichtig und sehr nachvollziehbar“.
Fliegt Wirecard vorzeitig aus dem DAX?
Mit dem Rücktritt könne Wirecard nun vielleicht den einen oder anderen Anleger zurückgewinnen, sagte Chef-Börsenanalyst Timo Emden von Emden Research unserer Redaktion. „Aber es braucht noch mehr. Wirecard muss jetzt schnellstmöglich die Karten offen legen, seine Bücher öffnen und vollständige Transparenz gewähren“, sagte Emden. Ein „fader Beigeschmack“ werde wohl dennoch bleiben, so Emden.
Er rechnet damit, dass die Deutsche Börse zudem ein Verfahren einleiten werde, damit Wirecard vorzeitig aus dem Dax ausscheide. Die nächste turnusgemäße Überprüfung der Dax-Konzerne findet erst im September statt. Bei der letzten Überprüfung vor zwei Wochen stand die Wirecard-Aktie noch bei über 95 Euro. Aus dem Dax schied stattdessen die Deutsche Lufthansa aus, sie wird ab Montag vom Wohnungskonzern Deutsche Wohnen ersetzt. Dieser zeitliche Zufall mit dem nun aufkommenden Wirecard-Skandal findet Anleger-Schützer Tüngler „an Tragik nicht zu überbieten“.
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Eigentlich hätte Wirecard derzeit eine Hochphase erleben können. In der Krise wird kontaktloses Zahlen immer wichtiger, Paypal etwa startete ein neues Zahlungsangebot per QR-Code. Auch viele Börseneinsteiger vertrauten offenbar darauf, dass Wirecard gut aus der Krise kommen könnten – die Aktien waren bei Börseneinsteigern in der Krise sehr beliebt. Nach dem schnellsten Crash der Geschichte hält sich der DAX zuletzt stabil. Sollte man jetzt schon wieder Aktien kaufen?