Hamburg. Die Handelskammer ramponiert ihr Image – und die Schifffahrt ist froh über die Elbvertiefung. Das turbulente Jahrzehnt der Wirtschaft.
Es war eine Dekade des Aufschwungs, nicht nur für Deutschland im Allgemeinen, sondern auch für Hamburg im Speziellen. Durchgeschüttelt von der Finanzkrise hat sich die Wirtschaft in der Hansestadt in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich positiv entwickelt. Dabei waren die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in der Regel – auf das einzelne Jahr gesehen – nicht exorbitant hoch, aber die Wirtschaft in der Stadt wurde insgesamt von einem langsamen, steten Aufwärtstrend geprägt.
Das lässt sich nicht nur am Bruttoinlandsprodukt ablesen, sondern auch an den Arbeitslosenzahlen. Lag die Erwerbslosenquote 2009 noch bei 8,6 Prozent, ist sie mittlerweile auf 6,0 Prozent gesunken. Weniger als 64.000 Hamburger suchen derzeit einen Job. Zudem gibt es erstmals mehr als eine Million sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in der Stadt. Dieser Rekord ist zum einen auf viele neue Dienstleistungen – wie die Mobilitätsanbieter oder den boomenden Onlinehandel – zurückzuführen.
Teilzeitjobs sind in Hamburg begehrt
Zugleich teilen sich auch immer mehr Menschen ihre Arbeit. Im Klartext: Teilzeitjobs sind in der Metropole begehrt. Vor allem viele Frauen, die sich früher nach der Geburt ihres Kindes längere Zeit ausschließlich um den Nachwuchs kümmerten, fragen nun schneller Teilzeittätigkeiten nach. Dieser Trend wird sicherlich durch die deutlich verbesserte städtische Kinderbetreuung begünstigt. Aber vor allem die exorbitant gestiegenen Wohnkosten zwingen immer mehr Paare mit Kindern dazu.
Ohnehin ist die Flexibilität im Job eines der großen Themen in der Hamburger Arbeitswelt von heute. Während der Schreibtisch in den eigenen vier Wänden – genannt Homeoffice – vor zehn Jahren noch eine Seltenheit war, kann es sich heute kaum noch ein Unternehmen leisten, diese moderne Art des Arbeitens seinen Beschäftigten vorzuenthalten. Denn der Kampf um Fachkräfte ist in der zurückliegenden Dekade immer härter geworden. Da müssen sich die Unternehmen schon einiges ausdenken, um Personal anzulocken.
Die Revolution in der Handelskammer
Einiges ausgedacht haben sich vor fast drei Jahren auch die sogenannten Kammerrebellen. Mit ihrem Erdrutschsieg bei den Plenumswahlen Anfang 2017 haben sie bei Hamburgs bedeutendster Wirtschaftsvertretung einen Veränderungsprozess in Gang gesetzt, der wohl nicht nur eine Dekade, sondern einen wesentlich längeren Zeitpunkt prägen wird. Die Kammer ist nicht mehr das, was sie einmal war.
Keine Frage: Mit vielen Traditionen, die überholt daherkamen, haben sie nicht zu Unrecht gebrochen. Ein über Jahrzehnte zementiertes, hierarchisches, fast schon patriarchisches Organisationsmodell wurde zerstört. Mehr Demokratie und Transparenz lautete das Versprechen – in Teilen ist dies gelungen. Doch um welchen Preis? Machtkämpfe und Intrigen, die nicht selten an eine schlechte TV-Soap erinnerten, wurden in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Um Inhalte ging es kaum noch.
Der Wahlkampfschlager „Wir schaffen die Kammerbeiträge ab“ verstummte schon wenige Wochen nach der Wahl, weil er auf einem Versprechen fußte, das so populistisch wie unrealistisch war. Der Oberrebell Tobias Bergmann wurde von seinen einstigen Mitstreitern höchstpersönlich aus der Kammer gejagt. Die verbliebenen Revoluzzer kämpfen mittlerweile gegeneinander – werden sich bei den kommenden Plenumswahlen im Frühjahr 2020 in verschiedenen Wahlgruppen duellieren.
Und wie geht es weiter am Adolphsplatz? In der nächsten Dekade muss es allen Verantwortlichen – egal ob Haupt- oder Ehrenamt - darum gehen, das ramponierte Image der Handelskammer aufzupolieren – und sie wieder zu einem ernstzunehmenden, kreativen Sprachrohr der Hamburger Wirtschaft zu machen. Ein schwieriger, womöglich sehr langer Weg.
Die Elbvertiefung hat endlich begonnen
Genau einen solchen Weg mussten auch die Planer der Elbvertiefung beschreiten. Bereits im September 2006 startete das Planfeststellungsverfahren für dieses ökonomisch so wichtige und ökologisch so umstrittene Projekt. Im Sommer 2019 konnte mit den Arbeiten endlich begonnen werden. Nach einer Dekade, die von langwierigen, zum Teil für den juristischen Laien unverständlichen Auseinandersetzungen vor Gericht geprägt war. Im Zentrum stand der Schierlingswasserfenchel – für die einen ein nerviges Unkraut, für die anderen eine Art Symbol für den Naturschutz. Am Ende bekam die Pflanze eine neue Fläche zum Wachsen und Gedeihen – und die Wirtschaft ihre Fahrrinnenanpassung.
Schaut man in den vergangenen zehn Jahren auf die Entwicklung des Containerumschlags, so fragen die Kritiker nicht ganz grundlos: Wozu brauchen wir die Elbvertiefung überhaupt noch? Denn die einst prognostizierten Wachstumszahlen sind bei Weitem nicht eingetroffen. So wurden 2018 mit 8,7 Millionen Standardcontainern (TEU) weniger umgeschlagen als noch 2011. Die treibende Kraft der Hamburger Wirtschaft war in der vergangenen Dekade eben primär der Inlandskonsum, während der Außenhandel über den Hafen – vor allem auf den Routen in Richtung Fernost – eher rückläufig war.
Die Hafenunternehmen führten diese Schwäche auch auf die fehlende Elbvertiefung zurück. So hätten die großen Frachter nur halb beladen in Hamburg festmachen können, zudem seien die großen Reedereien wegen des nicht ausreichenden Tiefgangs auf Konkurrenzhäfen ausgewichen. Wer am Ende recht hat – ob Umweltschützer oder Hafenwirtschaft – das werden die nächsten Jahre zeigen. Zumindest 2019 zeigen die Zahlen für den Containerumschlag wieder leicht nach oben.
Der Flughafen und Airbus wachsen
Eine rasante Aufwärtsentwicklung legte der Hamburger Flughafen hin. Gut zwölf Millionen Passagiere flogen 2009 von und nach Fuhlsbüttel. Zehn Jahre später sind es etwa 17,5 Millionen Fluggäste. Ob für die Geschäfts-, Urlaubsreise oder den Besuch von Freunden, die Hamburger gehen in die Luft – und viele Anwohner vor Wut über den wachsenden Airport auch. Sie fordern ein Eindämmen der Flugbewegungen.
Doch der Helmut-Schmidt-Flughafen will weiterwachsen und rechnet mit 26 Millionen Passagieren im Jahr 2035. Deshalb soll die Infrastruktur für Hunderte Millionen Euro ausgebaut werden. Zahlen sollen dies die Fluglinien, was für mächtig Knatsch sorgte. Nun wird das umstrittene Interimsterminals auf dem Vorfeld erst ein Jahr später im Frühjahr/Sommer 2021 in Betrieb genommen. Der Umbau der Rückseite der Pier Süd, an der sechs neue Gates geplant sind, startet später.
Einen zweiten Start legt die A320-Familie hin. Im Dezember 2010 kündigt Airbus den Start des A320neo-Programms an. Die bisherigen Triebwerke werden durch neue Motoren ersetzt – new engine option (neo). Sie sollen in Verbindung mit nach oben gebogenen Flügelspitzen und Kabinenmodifikationen mindestens 15 Prozent Sprit sparen. Die Neuerung wird wie der Vorgänger zum Verkaufsschlager. Airbus fährt die Fertigung für die Familie nach oben. Wurden Anfang 2010 konzernweit pro Monat 34 Maschinen zusammengebaut, sind es derzeit 60. Bis 2021 soll die Rate auf 63 Maschinen steigen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt aus Finkenwerder.
Die Zahl der Beschäftigten klettert binnen zehn Jahren von rund 11.500 auf 14.700. Mit dem A350 liefert der Konzern Ende 2014 ein neues Flugzeug aus. Der Großraumjet zeichnet sich durch seinen hohen Anteil an Kohlefaserverbundwerkstoffen aus und läutet damit eine neue Ära im Flugzeugbau ein – und den Abgesang auf den einstigen Hoffnungsträger. Der A350 mit seinen zwei Triebwerken ist effizienter als der Ende 2007 erstmals ausgelieferte A380. Airbus gräbt dem größten Passagierflugzeug der Welt selbst das Wasser ab. Es fehlt an Aufträgen. Im Februar 2019 kündigt Airbus an, die Produktion des A380 Anfang 2021 einzustellen. Ein schnelles Ende für die „Königin der Lüfte“.
Onlinehandel gibt den Takt vor
Im Handel gab es das Aus für einen Klassiker. Vor gut einem Jahr wurde der letzte Otto-Katalog versandt. Nach fast 70 Jahren stellte das Hamburger Unternehmen den Konsumwälzer ein. „Unsere Kunden haben den Katalog selbst abgeschafft, weil sie ihn immer weniger nutzen und längst auf unsere digitalen Angebote zugreifen“, sagte Otto-Chef Marc Opelt damals. Für Otto war der Schritt zugleich ein wichtiges Zeichen für den erfolgreichen Wandel vom traditionsreichen Versand- zum zukunftsorientierten E-Commerce-Händler.
Die Bedeutung des Onlinegeschäfts ist im vergangenen Jahrzehnt deutlich gewachsen. Nicht nur, dass die Umsätze sich von 20,2 Milliarden Euro 2010 auf 57, 8 Milliarden Euro Ende vergangenen Jahres (Online-Monitor des Handelsverbands Deutschland) mehr als verdoppelt haben. Auch die Art einzukaufen, hat sich drastisch geändert – von einem Angebotsmarkt zu einem Nachfragemarkt. Besonders kleine inhabergeführte Läden haben es schwer.
Auch in Hamburg sind bekannte Namen verschwunden, darunter der Porzellanhändler Lenffer am Großen Burstah, der Jeansladen Hundertmark auf der Reeperbahn und Schuh Elsner an der Mönckebergstraße. Chancen im Wettbewerb zu bestehen, haben nur kleine Händler, die sehr individuelle Angebote und besonderen Service bieten. Aber auch Filialisten schwächeln, wie die Krisen bei Mode-Hersteller Tom Tailor, der Otto-Tochter Sportscheck, der Verkauf der Buchhandelskette Weiland oder der Rückzug des schwedischen Haushaltswaren-Anbieters Clas Ohlson aus Deutschland zeigen.
Dagegen ziehen Outlet-Center und Schnäppchen-Händler wie TK-Maxx Kunden nicht nur an Autobahnabfahrten, sondern auch den in den Städten zunehmend an. Nach sehr erfolgreichen Jahren machen sich inzwischen auch die großen Shopping-Center Gedanken um die Zukunft. Das neue Schlagwort heißt Omnichannel, gemeint ist die Vernetzung von Online- und Stationärhandel. Äußerst erfolgreich ist auch das Angebot der Plattform About You, die sich als Technologieunternehmen versteht und mit einer Mischung aus Onlinekatalog, eigenen Kollektionen und Modemagazin ihre Kunden zielgenau anspricht.
Der Wandel im Hamburger Handel lässt sich auch an Personen festmachen. Patriarchen wie Brillenkönig Günther Fielmann, der Versandhauschef Michael Otto oder Schuhhändler Ludwig Görtz, die dem Geschäftsleben der Hansestadt lange ihren Stempel aufgedrückt haben, haben sich nach und nach aus der operativen Führung zurückgezogen – damit endet auch die Wirtschaftswunderzeit.
Banken und Versicherer bauen Jobs ab
Von wunderbaren Zeiten weit entfernt sind die Banken. Nach der von ihnen ausgelösten weltweiten Wirtschaftskrise 2008/09 blieb ihnen wenig Zeit zur Erholung: Schon kurz darauf mussten sie sich auf eine neue Herausforderung einstellen – die Digitalisierung. Im zurückliegenden Jahrzehnt kamen die Kunden für immer weniger Bankgeschäfte in die Filialen, der bis dahin traditionell über den Tresen abgewickelte Service verlagerte sich von Jahr zu Jahr mehr auf den Computer zu Hause oder auf das Smartphone.
Auch vor der Haspa machte diese Entwicklung nicht halt. Ihr Vorstand beschloss daher Ende 2016, die Filialen zu einer Art Nachbarschaftstreff umzugestalten. Gleichwohl ist die Zahl der Haspa-Geschäftsstellen seit 2010 von 180 auf aktuell knapp 130 gesunken, bis 2024 sollen es nur noch 100 sein. Zudem hat man ein Kostensenkungsprogramm eingeleitet, dem bis zu jeder fünfte Arbeitsplatz zum Opfer fallen könnte.
Noch viel stärker geschrumpft ist im jetzt zu Ende gehenden Jahrzehnt allerdings ein anderes Hamburger Kreditinstitut, das gar keine Filialen hat: die HSH Nordbank. Weil die einstige Landesbank nach den Milliardenverlusten durch die Finanzkrise und der mit Steuergeldern ermöglichten Rettung dann auch noch in den Sog der lang anhaltenden Schifffahrtskrise geriet, standen die Chancen auf das Gelingen der Privatisierung zwischenzeitlich nicht gut – letztlich gelang sie aber doch. Im Zuge des im November 2018 erfolgten Verkaufs an private Investoren wurde die HSH in Hamburg Commercial Bank (HCOB) umbenannt.
Wenn auch mit weniger Schlagzeilen als bei der Ex-HSH gingen auch im Hamburger Versicherungssektor in den zurückliegenden zehn Jahren zahlreiche Arbeitsplätze verloren. Vertraute Namen verschwanden zudem von der Bildfläche: Die vom Generali-Konzern übernommene Volksfürsorge verabschiedete sich 2014 endgültig, der Deutsche Ring existiert nur noch als Krankenversicherungsmarke unter dem Dach der Signal-Iduna – auch zur Dekade des Aufschwungs gehört das Aus für Traditionsmarken dazu.