Hamburg. Versandhauserbe Benjamin Otto und seine Frau Janina Lin planen ein futuristisches Zentrum mit Kita, Schule und Hochschule.
Die Ottos sind Geschäftsleute. Versandhauserbe Benjamin Otto sitzt als gestaltender Gesellschafter im Aufsichtsrat der Otto-Gruppe, hat erfolgreich diverse Start-ups gegründet. Seine Frau Janina Lin Otto führt die Firma Frau Ultrafrisch, die Fertiggerichte aus natürlichen Zutaten verkauft. Dazu Familie, Haus, repräsentative Verpflichtungen. Eigentlich, sollte man meinen, haben die beiden genug zu tun. Aber das prominente Ehepaar hat einen großen Plan. „In unseren Unternehmen setzen wir uns mit der sich permanent ändernden Welt und der Umwelt auseinander“, sagt Janina Lin Otto. Und da sei vieles nicht im Gleichgewicht. Statt es bei dem Befund zu belassen, haben die beiden beschlossen zu handeln. Mit dem Bau eines innovativen Bildungszentrums wollen sie dazu beitragen, die Herausforderungen der Zeit zu meistern. Life Hamburg ist der Arbeitstitel für ihr Leuchtturmprojekt, in dem sie ihre Vision von generationenübergreifendem Lernen mit Kita, Schule, Hochschule, Start-up-Firmen, Weiterbildungs- und Gesundheitsangeboten verwirklichen wollen.
Life Hamburg soll in drei bis vier Jahren eröffnet werden
„Das heutige System kann die Anforderungen von morgen nicht decken. Wir verfolgen einen ganzheitlichen Denkansatz, der das Lernen demokratisiert“, sagt Benjamin Otto. Aus den Fenstern seines Büros im frisch renovierten siebten Stock des Otto-Hochhauses sieht man weit über die Stadt. Auf dem Besprechungstisch steht ein Laptop, daneben liegen erste Entwürfe für das Zukunftsprojekt. Life Hamburg soll in unmittelbarer Nähe auf dem Firmengelände in Bramfeld entstehen – aber für alle offen sein. Geplant ist ein futuristisches Gebäude in Form einer liegenden Acht, nachhaltig gebaut mit viel Holz, einem zentralen Forum und großem Dachgarten – insgesamt eine Fläche von 20.000 Quadratmetern. „Wenn der Zeitplan hält, könnte Life Hamburg in den nächsten drei bis vier Jahren fertig werden“, sagt der 44-Jährige, der beim zweitgrößten Online-Händler Deutschlands für Themen wie digitale Transformation und Kulturwandel zuständig ist.
Vor gut einem Jahr hatte er im Gespräch mit dem Abendblatt gesagt, dass er künftig mehr eigene Aktivitäten mit ethischem Anspruch anstoßen wolle. Das Ehepaar hat die Stiftung Holistic Foundation ins Leben gerufen. Der neue Lernort gehört zu den ersten Vorhaben. Über die Investitionshöhe machen die Stifter keine Angaben.
Mehr Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen
Die Idee hinter Life Hamburg ist ziemlich radikal, misst man sie an den heutigen Standards im deutschen Bildungssystem. Individuelle Lernangebote, kleine Gruppen, Coaches statt Lehrern. Klassische Schulinhalte sollen erlernt werden, aber genauso wichtig sind Programmieren, Handwerken, Gärtnern oder Balletttanzen. „Wir wollen mit unserem Konzept eine Alternative anbieten, die jedem Einzelnen mehr Entfaltungsmöglichkeiten lässt und damit zu einem glücklicheren Menschen macht“, sagt Janina Lin Otto.
Seit das Ehepaar selbst ein Kind hat, treibt die Ottos die Frage nach zeitgemäßen Lernformen um. Ein bisschen hat das wohl mit den eigenen Erfahrungen zu tun. „Ich habe mich in der Schule mit dem Frontalunterricht nie wohlgefühlt“, sagt Benjamin Otto. Er habe irgendwann aufgegeben, sich vieles zu Hause selbst beigebracht. Janina Lin Otto erzählt, dass sie als Schülerin zwar keine Probleme gehabt habe, sich aber oft eher unterfordert gefühlt habe. In einer Zeit, in der immer mehr Arbeitsplätze durch Automatisierungsprozesse wegfallen und in der heutige Jugendliche später in Bereichen arbeiten wird, die heute noch gar nicht existieren, werde es immer wichtiger, eigene Stärken und Kompetenzen zu erkennen und zu entwickeln. „Eine Lösung sind kollaborative Lerngemeinschaften“, ist Benjamin Otto überzeugt, der bereits in der Otto-Gruppe mit der Coworking-Space Collabor8 und dem von ihm gegründeten Gemeinschaftsbüro Coworks Rocks auf diese Strategie setzt. Lernen sollte nicht als eingegrenzter Lebensabschnitt verstanden werden, sondern als lebenslanger Prozess, so der Enkel von Firmengründer Werner Otto.
Zusammenarbeit mit der Initiative Learnlife
Gleichgesinnte haben die Ottos vor einem Jahr bei der internationalen Bildungsinitiative Learnlife im spanischen Barcelona gefunden, die sich seit 2017 für ein „offenes Ökosystem für lebenslanges Lernen“ engagiert. „Das hat perfekt gepasst“, erinnert sich Benjamin Otto an das erste Treffen mit Co-Gründer Christopher Pommerening. Der Ansatz von Learnlife umfasst eine digitale Plattform und den Aufbau von lokalen Lernzentren. Bis 2030 sollen so 100 Millionen Lernende und 100.000 Schulen weltweit dabei unterstützt werden, Lernelemente zu adaptieren und eigene Projekte zu integrieren – eine Art Schwarm-Bildungsoffensive. Benjamin Otto hatte sich im Juni maßgeblich an einer Finanzierungsrunde in Höhe von 3,1 Millionen Euro beteiligt.
Erste Gespräche mit der Schulbehörde
Im April war in Barcelona das erste Learnlife-Zentrum eröffnet worden. „Das ist der Prototyp, der zeigt, wie der neue dynamische Lernansatz aussehen kann“, sagt Otto und startet auf seinem Laptop einen Film, in dem sehr entspannte Jugendliche beim Lernen nach der Learnlife-Methode zu sehen sind. „Man sieht, wie viel Freude Lernen macht, wenn die Motivation geweckt ist“, sagt er. Im nächsten Jahr soll ein weiterer Standort in Kigali in Ruanda folgen.
In dem Hamburger Bildungszentrum der Ottos soll Learnlife ebenfalls aktiv werden. Bei der Suche nach Partnern für das Projekt sind sie zudem in Kontakt mit privaten Kita-, Schul- und Hochschulträgern. Mit der Schulbehörde gab es erste Gespräche. Langfristig soll es möglich sein, staatlich anerkannte Bildungsabschlüsse abzulegen. Bislang gibt es in Hamburg nur die Neue Schule, die von Pop-Sängerin Nena Kerner und ihrem Ehemann Philipp Palm 2008 als Privatschule in einer Rahlstedter Villa gegründet wurde, die mit ähnlich selbstbestimmten Lernmethoden arbeitet – und eine lange Warteliste hat.
Zentrum ist für 2000 Menschen ausgelegt
Life Hamburg soll nach den Vorstellungen der Stifter noch weitergehen. Weitere Säulen sind Computer-Labs, Labore und Kreativstudios für Start-up-Gründer, Wissenschafts- und Technologie-Communitys, die zugleich den Zugang zu Praktika und Mentorenprogrammen für jüngere Lernende ermöglichen sowie großzügige Flächen für Sport- und Gesundheitsangebote. Wichtig ist den Stiftern, dass der Besuch nicht vom Geldbeutel abhängt. „Es wird Schulgeld geben, aber auch Stipendien.“ Ziel sei es, Bildungsangebote für viele zu öffnen. „Wir wollen das Prinzip der Gegenseitigkeit fördern“, erklärt Benjamin Otto sein Modell des Wissenstransfers. Ausgelegt ist Life Hamburg auf 2000 Menschen jeden Alters, die sich vernetzen und voneinander profitieren sollen. So stellt er sich Jugendliche vor, die Senioren in die Tiefen der Smartphone-Nutzung einweihen, oder ein Start-up, das eine App zur Messung des persönlichen Co2-Verbrauchs programmiert und anderen zur Verfügung stellt.
Lernen noch mal neu erfinden
Letztlich geht es darum, Lernen noch einmal neu zu erfinden. Ein Riesenthema. Die Ottos wissen das. Es nicht zu versuchen ist für sie keine Option. „Wir haben eine Verantwortung und wollen einen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten“, sagt Janina Lin Otto. Sie und ihr Ehemann sind überzeugt, dass sich etwas ändern muss. „Indem wir andere Konzepte anbieten, möchten wir Anregungen für den Wandel geben.“