Hamburg. Hagenbeck, Sieveking, Petersen – diese Namen kennt fast jeder in der Stadt. Zehnter Teil der Serie über große hanseatische Traditionen.
Wenn man geschäftlich ganz oben ist, sind wichtiges Gehabe oder Pomp in der Außendarstellung offensichtlich überflüssiger Firlefanz. Von der Terminvereinbarung bis zum Gespräch ohne jeden Zeitdruck mit anschließendem Foto verläuft im Falle Michael Ottos alles erfrischend unkompliziert, herzlich und bodenständig. Wahrscheinlich hat es mit den Wurzeln der Familie zu tun: Ausschließlich mit harter Arbeit ging’s voran. Vererbt wurde und wird nur in der Neuzeit. Früher mangelte es der Brandenburger Sippe meist an Masse. Nicht nur ein Vorfahr ging Konkurs.
Auch das unterscheidet diesen Serienteil von den neun Vorgängern. Während die bisher vorgestellten Familien meist seit Jahrhunderten in der Hansestadt präsent – und gut situiert – sind, zogen die Ottos erst nach Kriegsende hierhin. Dennoch kennt den Namen dieser Dynastie hierzulande praktisch jedes Kind. Hamburg und Otto, das gehört zusammen. Und Otto, das ist hanseatisch. Ein guter Grund mithin, heute eine Ausnahme zu machen. Übrigens: Zu einem dreitägigen Familientreffen in einem Landhotel in Vorpommern kamen 1999 rund 80 Ottos; fast die Hälfte davon stammte aus Hamburg.
Womit wir mittenmang sind. Herr Otto, wie weit lässt sich die Familienhistorie nachvollziehen? Als Senior der Hamburger Dynastie ist der Ehrendoktor und Professor der richtige Ansprechpartner. Der Gastgeber kann auf schriftliche Unterlagen verzichten. Die entscheidenden Daten hat er im Kopf. Später wird der Aufsichtsrats- und ehemalige Vorstandsvorsitzende der Otto Group, der Mutter des allseits bekannten Otto Versands, von seinen Besuchen an Stätten der Vergangenheit berichten. Auch die genauen Stationen der Startphase in Hamburg benennt der Ehrenbürger präzise. Und er gibt einen kleinen Traum preis. Doch dazu später mehr.
Urgroßvater war Kunstschmied
„Mein Urgroßvater war Kunstschmied“, erinnert sich Michael Otto. Seine Familie lebte in der Kreisstadt Seelow im märkischen Oderland, heutzutage 5600 Einwohner umfassend und nicht weit von der polnischen Grenze entfernt. Ebenfalls in Seelow und später in Prenzlau betrieb Michael Ottos Großvater Wilhelm Otto einen Kolonialwarengroßhandel. Als dieses Geschäft pleiteging, konnte Wilhelm Otto nicht mehr das Schulgeld für seinen Sohn Werner bezahlen, den späteren Versandhausgründer. Folglich musste dieser die Oberschule verlassen. Werner Otto absolvierte eine Lehre in Angermünde und machte sich als Kaufmann in Stettin selbstständig.
Bevor die Ottos nach Hamburg kamen, ergab sich eine mit Leid verbundene Odyssee. Während der Vater schwer verletzt im Lazarett lag, floh Mutter Eva mit der vierjährigen Tochter Ingvild und dem zweijährigen Michael vor der Roten Armee westwärts. In Mecklenburg wurden die Pferdetrecks von Kampffliegern beschossen. Niemand konnte ahnen, dass Hamburg der Familie ein stabiles wirtschaftliches Fundament und letztlich Glück bringen würde.
Michael Otto greift zur Teetasse. Er weiß diese Details von seiner Mutter. Beim Rückblick auf die Jahre danach vermischen sich Erzählungen der Älteren mit dem eigenen Gedächtnis. 1945 bezieht die fünfköpfige Familie für ein halbes Jahr ein Zimmer in Bad Segeberg. Michaels Vater Werner ist so weit genesen; und auch seine Großmutter ist dabei. Nächste Station wird eine Zweizimmerwohnung in Hamburg-Schnelsen. Ein Bad gibt es nicht. „Und zum Plumpsklo mussten wir über den Hof“, erinnert sich der heute 75 Jahre alte Michael Otto. Drei Jahre, bis zur Währungsreform mit Einführung der D-Mark, blieb die Familie dort. Ende 1948 zog die Mutter mit Ingvild und Michael nach Lokstedt.
Sippe ist weit verzweigt
Der Grund: Eva und Werner Otto hatten sich getrennt. Wir wollen eine lange Geschichte an dieser Stelle kurz machen. Werner Otto, Hamburgs Wirtschaftswunderheld, der im Dezember 2011 im Alter von 102 Jahren starb, war dreimal verheiratet und hatte insgesamt fünf Kinder: mit Ehefrau Eva, wie erwähnt, die in München lebende Ingvild sowie Michael, mit Ehefrau Jutta den ebenfalls in Hamburg ansässigen Medienunternehmer Frank. Maren Otto brachte später Katharina und Alexander zur Welt, den heutigen ECE-Chef. Kein Wunder also, dass die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Familie Otto nicht leicht auf den Punkt zu bringen sind. Es gibt Halbbrüder und -schwestern, Cousinen und Cousins. Die Sippe ist weit verzweigt.
„Wir treffen uns regelmäßig“, sagt Michael Otto, „allerdings nicht organisiert, sondern in lockerem Rahmen und oft spontan.“ Diese Zusammenkünfte betreffen besonders die Hamburger Familie, zu der Christl und Michael Ottos Kinder Janina und Benjamin gehören. Zu dem oben erwähnten großen Familientreffen mit Klönschnack, Musik und Feuerwerk kamen viele Verwandte aus den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern. Anlass vor knapp 20 Jahren war der 90. Geburtstag Werner Ottos. Nur zwei Mitglieder aus seinem Stamm erschienen nicht.
In Hamburg sind, zum Beispiel bei Taufen oder runden Geburtstagen, aus der engeren Familie in der Regel 15 bis 20 Ottos dabei. „Dann geht es munter zur Sache“, ergänzt der Gastgeber, „ganz normal eben.“ Danke für das Stichwort, Herr Otto. Denn was ist schon normal in einer Familie, deren Vermögen unter dem Strich auf mehr als 15 Milliarden Euro geschätzt wird? Jede Kleinigkeit gerät an die Öffentlichkeit – und wird nicht selten zur Affäre. Da Liebesbeziehungen in dieser Serie ebenso wenig zu suchen haben wie Gedankenspiele über Sicherheit, bleibt beides ein anderes Kapitel.
Nur so viel: „Herr Otto, nervt Sie diese allgegenwärtige Transparenz?“. Schnelle Antwort: „Begeistert bin ich natürlich nicht.“ Seine Familie sei „im Privatleben diskret und zurückhaltend“. Dennoch wolle man sich nicht verstecken, sondern in der Heimatstadt präsent sein. Als markanter Unternehmer, Mäzen und Stifter geht das gar nicht anders. Apropos Präsenz: Die Entscheidung seines Sohnes, im Unternehmen nicht seine direkte Nachfolge anzutreten, „fand ich gut“. Er habe länger mit Benjamin gesprochen und verstehe seine Entscheidung, „gestaltender Gesellschafter“ zu werden. Der Junior „kann das Strategische besser“.
Geburtsurkunde ist im Original gut erhalten
Themenwechsel. Was ist an alten Unterlagen der Familie noch vorhanden? „Fast alles blieb in Westpreußen zurück oder ging auf der Flucht verloren“, antwortet Otto. Archivunterlagen der Firma oder private Fotoalben stammen aus der Zeit danach. Historisches Bewusstsein sei nicht nur bei ihm als ältestem Sohn Werner Ottos vorhanden. Auch bei den jüngeren Familienmitgliedern werde über früher gesprochen.
Michael Ottos Geburtsurkunde ist im Original gut erhalten. Nach einem Besuch 1968 seiner Geburtsstadt Kulm in Polen, dem heutigen Chelmno, reiste er vor vier Jahren noch einmal dorthin. Er sah das gut erhaltene Gebäude, in dem seine Eltern einst ihr Schuhgeschäft betrieben, umarmte Lenchen, das 90-jährige Kindermädchen von früher – und erhielt das Dokument mit dem Datum 12. April 1943.
Die Jahrzehnte seitdem vergingen wie im Sauseschritt. Michael Otto hat das Erbe seines Vaters betreut und vermehrt. Seine vier Geschwister stehen gleichfalls glänzend da. Das Feld für die Kinder und Enkel ist bestellt. Mehr als 51.700 Mitarbeiter und gut 13,6 Milliarden Euro Jahresumsatz der Gruppe mit Hauptsitz in Bramfeld, das sind Hausnummern. Muss man erst mal schaffen.
Kleine oder größere Träume
Was bleibt an kleinen oder größeren Träumen? Michael Otto, ohnehin schon gut drauf, kommt zusätzlich in Fahrt. Er beschreibt die Leidenschaft, mit der er seine Stiftungen betreibt, unter anderem für Jugend, für Musik, für Umwelt und für Entwicklungsprojekte in Afrika. „Das ist mir ein Herzensanliegen“, sagt er. „Man muss sich hineinknien und sich die Probleme vor Ort anschauen.“ Auch seine Geschwister engagieren sich vielfältig.
An seiner Wahlheimat Hamburg, fährt Otto fort, schätzt er besonders die Gelassenheit und die Weltläufigkeit. Hier befinden sich die neuen Wurzeln der Familie Otto. Besonders mag er Rathaus und Börse, mithin jene Orte, an denen Politik und Kaufmannschaft traditionell verbunden sind. Und er liebt das Elbufer. Alles ist im Fluss. Man könne hinfallen, muss aber wieder aufstehen. Das entspricht seiner Lebenseinstellung. Kontinuität ist Trumpf.
Und Reisen? Michael Otto schildert abenteuerliche Exkursionen wie zwei Wochen auf dem Pferderücken durch Kasachstan, nur mit Satteltasche und Zelt ausgerüstet. Es ging auch nach Namibia und in die Kultur des Iran. Ja, eine Durchquerung Grönlands mit dem Hundeschlitten, das wäre noch ein traumhaftes Ziel. Gute und gerne 30 Tage 1200 Kilometer durch die Einsamkeit.
Von den Pluspunkten eines vermögenden Unternehmers und gestaltenden Machers kann er sich dort nichts kaufen. Auch nicht von den Vorteilen eines Ehrenbürgers. In dieser Funktion erhält Michael Otto regelmäßig ein Jahresticket des Hamburger Verkehrsverbunds geschenkt. Neulich fuhr er mit dem Bus in die Innenstadt. Ganz normal. Vater Werner Otto wäre stolz auf seinen Ältesten – und auf die Familie überhaupt. Sie hat sich binnen sieben Jahrzehnten einen Namen gemacht. Andere brauchen Jahrhunderte.
Teil 1 – Familie de Chapeaurouge
Teil 2 – Familie Petersen
Teil 3 – Familie Hagenbeck
Teil 4 – Familie Sieveking
Teil 5 – Familie Schües
Teil 6 – Familie Baur
Teil 7 – Familie von Jenisch
Teil 8 – Familie Sillem
Teil 9 – Familie von Donner
Teil 10 – Familie Otto
Teil 11 – Familie von Schröder
Teil 12 – Abendroths und Jencquels
Teil 13 – Familie Siemers
Teil 14 – Familie Amsinck