Hamburg . Nach der Entlassung von Vorstandschef Jürgen Schachler fürchten Kritiker, dass die Salzgitter AG zuschlägt.
Wer auf der A255 von Süden Richtung Hamburger Innenstadt fährt, sieht kurz vor den Norderelbbrücken auf der rechten Seite das Werk des Kupferherstellers Aurubis. Auf der Fassade der größten Produktionshalle steht in blauen Leuchtbuchstaben das Firmenmotto: „Metals for progress“ (Metalle für den Fortschritt). Bis vor einem knappen Jahr stand dort „Our copper for your life“ (Unser Kupfer für Ihr Leben). Es ist der sichtbare Ausdruck dafür, dass sich Europas größter Kupferhersteller breiter aufstellen und verstärkt auch andere zukunftsträchtige Metalle gewinnen und verkaufen will.
Der Mitte 2016 angetretene Vorstandschef Jürgen Schachler hatte diese Vision entwickelt und vorangetrieben. Doch der Aufsichtsrat stoppte am Mittwoch den wohl wichtigsten Baustein der Strategie, das Projekt FCM (Full Complex Metallurgy) und damit Investitionen von mehr als 300 Millionen Euro. Mehr noch: Schachler musste wenige Tage vor Ende seines Vertrags vorzeitig gehen. Wie geht es nun weiter bei Aurubis?, Was bedeutet die Entscheidung für das Hamburger Stammwerk? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was sind die Gründe für
den vorzeitigen Abgang Schachlers?
Dass der Vertrag des 64 Jahre alten Vorstandschefs und früheren Stahlmanagers nicht verlängert wird und Schachler Aurubis Ende Juni nach drei Jahren wieder verlässt, war seit Ende 2018 öffentlich bekannt. Sein designierter Nachfolger Roland Harings kam überraschend schon am 20. Mai in die Hamburger Zentrale und soll nun wie geplant zum 1. Juli den Chefposten übernehmen. Der Aufsichtsrat begründete den Stopp des FCM-Projekts mit deutlich höheren Investitionen als ursprünglich geplant, daher könne es nicht mehr wirtschaftlich sein. Wie viel teurer das Projekt geworden wäre, wurde nicht bekannt. Nach dem Aus für Schachlers wichtigstes Vorhaben, gab es offenbar keine Basis mehr für eine Zusammenarbeit in den verbleibenden knapp drei Wochen. Wäre FCM gestoppt worden, nachdem Harings in die Spitzenposition gewechselt ist, hätte dies die Reputation des neuen Vorstandschef beschädigen können.
Was hat das nun gestoppte wichtige
Projekt FCM beinhaltet?
FCM sah vor, dass bis zum Jahr 2022 etwa 320 Millionen Euro in das Hamburger Stammwerk und in die Aurubis-Hütte im belgischen Olen investiert werden. Es sollte eine der größten Einzelinvestitionen in der mehr als 150-jährigen Unternehmensgeschichte werden. Zwei Drittel der Summe waren in der Hansestadt verplant. Im Werk auf der Peute sollten dadurch 120 neue Arbeitsplätze entstehen, in Belgien 60. Von 2022 an sollte FCM demnach pro Jahr zusätzlich etwa 80 Millionen Euro Gewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen abwerfen. Die Idee: Die Kupferhütten werden technisch so ausgestattet und optimiert, dass sie künftig anders zusammengesetzte Rohstoffe – sogenannte Kupferkonzentrate – verarbeiten und etwa auch Nickel und deutlich mehr Blei gewinnen können. Beide Metalle sind wichtige Grundstoffe für die Akkus von Elektroautos und für Speicher von Windstrom, für die die Nachfrage deutlich steigt. Schon heute gewinnt Aurubis zum Beispiel Gold. Im Geschäftsjahr 2017/18 waren es 48 Tonnen im Wert von 1,85 Milliarden Euro. Zudem 877 Tonnen Silber und fast 20.000 Tonnen Blei. Der Konzern vermarktet außerdem Nickel und Zinn, zuletzt fast neun Tonnen Platin und verwandte Metalle wie Iridium pro Jahr – sowie große Mengen Schwefelsäure, die bei der Produktion entstehen.
Was plant der neue Chef
Roland Harings nun konkret?
Unmittelbar nach der Trennung von Schachler betonte dessen designierter Nachfolger, Aurubis halte an der Multimetall-Strategie fest, es würden nun „andere interne Wachstumsoptionen“ intensiver geprüft „mit der Zielsetzung eines integrierten Hüttennetzwerks“. Hintergrund: Aurubis hatte Ende Mai den – noch nicht genehmigten – Kauf des belgisch-spanischen Metallrecyclingkonzerns Metallo für 380 Millionen Euro bekanntgegeben. Dies sei ein wichtiger Baustein für die Multimetall-Strategie, betonte Harings. Vorstellbar ist, dass Metallo nun zum Zentrum für die Gewinnung anderer Metalle im Konzern werden und die Hüttenwerke mit hochwertigeren Rohstoffen aus dem Recycling beliefern wird. Harings erklärte am Donnerstag gegenüber dem Abendblatt, der Stopp des FCM-Projekts bedeute nicht, dass einige der Teilvorhaben nicht doch noch umgesetzt würden: „Aurubis hat das Wissen, hochkomplexe metallurgische Verfahren zu entwickeln, um die Palette der gewonnen Metalle zu erweitern. Diese Strategie zum Multimetall-Anbieter werden wir weiter konsequent umsetzen. Es gibt eine Vielzahl von konkreten Projekten in der Umsetzung und Ideen – auch aus dem FCM-Projekt heraus – die dies belegen. Jeder Standort hat seine Stärken, auf denen wir aufbauen. Hamburg als größter Standort der Gruppe und Sitz der Hauptverwaltung spielt dabei eine Schlüsselrolle.“
Welche Bedeutung hat der Standort Hamburg für Aurubis?
Das Stammwerk auf der Peute hat 2300 Mitarbeiter, das sind mehr als ein Drittel der weltweit 6700 Beschäftigten. In Hamburg wurden zuletzt knapp 400.000 Tonnen Kupfer pro Jahr hergestellt. Das war etwa ein Drittel der gesamten Kupferproduktion des Konzerns. Er erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2017/18 etwa 10,4 Milliarden Euro Umsatz. Nach dem FCM-Aus bleiben nun mehr als 200 Millionen Investitionen in der Hansestadt aus. Nach Angaben eines Unternehmenssprechers arbeiteten auf der Peute zuletzt 80 Mitarbeiter in dem Projekt, ein Teil davon sei innerhalb des Unternehmens dorthin gewechselt. Der Sprecher versicherte: „Es wird bei Aurubis jetzt keine Entlassungen geben.“
Wie steht Aurubis wirtschaftlich da?
Für das Geschäftsjahr 2017/18 hatte der Konzern ein operatives Ergebnis in Höhe von 329 Millionen Euro gemeldet. Im ersten Halbjahr 2018/19 ging der operative Gewinn jedoch auf 103 Millionen Euro zurück. Eine der Ursachen waren ungeplante Fertigungsstillstände. In mehreren Werken, auch in Hamburg, musste der Ofen zeitweise für Reparaturen heruntergefahren werden. Das führte zu Einbußen bei der Produktion. Vorstand und Aufsichtsrat teilten am Mittwochabend auch mit, dass das „aktuelle konjunkturelle Umfeld“ das Ergebnis des Gesamtjahres belasten werde. Unter anderem sinkt die Nachfrage nach Aurubis-Produkten aus der schwächelnden Autoindustrie. Zudem schmälern die bereits in das FCM-Projekt investierten 30 Millionen Euro den Gewinn im dritten Quartal des Geschäftsjahres. Sie müssen nun abgeschrieben werden.
Wer hat die Macht bei Aurubis?
Größter Aktionär ist der Stahlkonzern Salzgitter AG. Er steigerte seinen Anteil Ende 2018 von 16 auf mehr als 25 Prozent und hat seitdem weitere der insgesamt knapp 45 Millionen Aktien zugekauft. Salzgitter-Vorstandschef Heinz Jörg Fuhrmann, der im Aurubis-Aufsichtsrat sitzt, sagte unlängst bei der Hauptversammlung des Konzerns, dieser besitze derzeit „30 Prozent minus eine Aktie“ der Anteilsscheine des Kupferherstellers. Salzgitter hat erklärt, unabhängiger vom schwierigen Stahlgeschäft werden zu wollen. Vor Jahren hatte Fuhrmann bereits einmal laut über eine Übernahme von Aurubis nachgedacht, war dann aber wieder zurückgerudert. Zuletzt hieß es aus der Salzgitter-Zentrale, es gebe keinerlei Beschlüsse dazu und keine Neuigkeiten zu diesem Thema.
Was befürchten Salzgitter-Kritiker wie Ex-Aurubis-Chef Werner Marnette?
„Aurubis ist jetzt waidwund geschossen für eine Übernahme durch Salzgitter“, sagte der langjährige Vorstandschef (1994 bis 2007) Marnette am Donnerstag dem Abendblatt. Der Ex-Manager, der weiterhin Aurubis-Aktionär ist und das Unternehmen kritisch begleitet, ist überzeugt, der Stahlkonzern wolle „möglichst preiswert an Aurubis kommen“ und werde den stark gesunkenen Aktienkurs für ein Übernahmeangebot nutzen. Besitzt ein Anteilseigner mehr als 30 Prozent der Aktien eines Unternehmens, muss er den anderen Aktionären ein Übernahmeangebot unterbreiten. „FCM war ein zentrales Projekt und ein wichtiges Standbein für den Standort Hamburg. Dass es gestoppt wurde, schwächt das Werk“, sagte Marnette.
Wie reagieren Börse und Analysten
auf die neuesten Entwicklungen?
Anleger zeigten sich irritiert vom Stopp des Investitionsprojekts und der Gewinnwarnung vom Vorabend und trennten sich am Donnerstagmorgen massenhaft von den im MDAX notierten Aurubis-Aktien. Der Kurs brach zeitweise um zwölf Prozent auf knapp über 36 Euro ein. Es war der tiefste Stand seit Oktober 2015. Im Tagesverlauf konnte das Papier die Verluste aber etwas eindämmen und notierte später um 38 Euro und damit bei minus 7,6 Prozent. Das war wenig mehr als die Hälfte des bisherigen Jahreshöchststandes von 71,26 Euro. Anfang 2018 war deine Aurubis-Aktie sogar noch 86 Euro wert gewesen. „Der perfekte Sturm wurde noch schlimmer“, schrieb Analyst Henning Breiter von der Privatbank Hauck & Aufhäuser über die Entwicklung. Der Stopp des FCM-Projekts passe zur insgesamt schlechten Stimmung angesichts des schwierigen konjunkturellen Umfeldes sowie der ungeplanten Produktionsausfälle.