Hamburg. Gerd Rogge hat 1958 seine Ausbildung begonnen. Heute, mit 75 Jahren, führt er Besucher über das Werksgelände.

Er hat sofort zugesagt, als die Anfrage kam. Die Anfrage, ob er an diesem Tag arbeiten kann. Es ist ein besonderer Tag, der Geburtstag seiner Frau. 83 wird sie. Gerd Rogge, selbst 75 Jahre alt, hat trotzdem eingewilligt. Seine Frau kennt das, hat Verständnis dafür, schon immer. Vor 55 Jahren haben sie sich kennengelernt, beim Tanzen in der Elbhalle. Damals war Gerd Rogge gerade erst ein paar Jahre bei der Hamburger Flugzeugbau GmbH, aus der später Airbus hervorgegangen ist. Heute arbeitet er immer noch für das Unternehmen. Seit inzwischen 61 Jahren und 16 Tagen. Er weiß das auf den Tag genau.


Gestern Abend hat er mit seiner Frau schon mal angestoßen, heute Morgen war ihm das zu knapp. Um 8.45 Uhr musste er los, damit er es von Lurup bis 10.00 Uhr nach Finkenwerder schafft. Er fährt immer mit dem Fahrrad bis Teufelsbrück, von Anfang an, seit sie 1968 in das Haus gezogen sind. Bei jedem Wetter, auch im Winter. Oft geht es dann mit dem Fahrrad sogar besser als mit dem Auto. 20 Minuten sind es bis zum Fähranleger. Der Hinweg ist einfach, führt schön bergab. Aber zurück, den Berg wieder hoch, da muss er sich ganz schön abstrampeln. Meistens braucht er für den Heimweg fünf Minuten länger. „Sein Fitnessprogramm“, nennt Gerd Rogge das. Früher ist ihm das leichter gefallen, als er noch jeden Tag bei Airbus war. Jetzt, wo er seltener arbeitet, wird es immer schwerer.

Er zeigte schon Kanzlerin Angela Merkel das Werk

Manchmal hat er ein paar Wochen lang gar keinen Einsatz, dann wieder zwei oder drei hintereinander. So wie in diesen Tagen. Erst gestern hat er eine Gruppe von Amerikanern über das Gelände geführt. Englisch spricht er gut. „Aber dieses Amerikanisch“, sagt er und schüttelt den Kopf. Da musste er schon ein paar Mal nachfragen. Die Besucher hat es nicht gestört, denn Gerd Rogge weiß, wie er die Menschen mit Geschichten und Anekdoten begeistern kann.

Seit 13 Jahren wird er von Airbus bei Führungen eingesetzt, nicht für normale Besuchergruppen, sondern für Airbusgäste, darunter viele VIPs. Wichtige Leute. Er hat schon die kürzlich verstorbene Formel-1-Legende Niki Lauda herumgeführt. Oder Ex-Bahnchef Rüdiger Grube, den er schon kannte, als der noch Lehrling bei Airbus war und Rogge sein Ausbilder. Und – gemeinsam mit einem Kollegen – auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Eine große Sache war das.

Airbus ist sein Leben

Irgendwann mit Anfang 60, stand die Frage an, wie es weitergeht. Ob er einfach in Altersteilzeit geht und dann komplett aussteigt – und alles aufgibt. Nach 48 Jahren im Unternehmen! Oder ob er in irgendeiner Form weitermacht, als Werksführer zum Beispiel. Schließlich kannte er die Firma nach damals fast fünf Jahrzehnten so gut wie kaum ein anderer. Aus der Überlegung wurde ein Entschluss, aus dem Entschluss eine Aufgabe. Eine Art Lebensaufgabe.

Denn Airbus ist sein Leben. Mit 14 Jahren hat er hier angefangen. Manchmal wundert er sich selbst, wie das früher so war. Dass er nach acht Jahren Volksschule in Niedersachsen alleine nach Hamburg gezogen ist. „Vom behüteten Elternhaus alleine in eine kleine Butze in Altona, das war was“, sagt Gerd Rogge. Seinen Kindern hätte er das nicht erlaubt. Aber früher war das eben so. Früher, das sind für ihn die 1950er-Jahre, als er ein Faible fürs Fliegen hatte und Flugzeugbauer werden wollte – ohne zu dem Zeitpunkt je geflogen zu sein. „Da ich immer schon gerne Modellflugzeuge gebastelt habe, riet man mir bei der Berufsberatung zu einem Job im Flugzeugbau“, sagt Gerd Rogge und erinnert sich, wie er mit seinem Vater von Cuxhaven mit der Bahn zum Vorstellungsgespräch nach Hamburg gefahren ist. Zu jung, um alleine zu reisen, aber alt genug, um eine Ausbildung zu beginnen.

Am 1. April 1958 war sein erster Arbeitstag.

Am 1. April 1958 war sein erster Arbeitstag. Kein Scherz. Er, der jüngste in seinem Jahrgang. Die anderen mindestens ein Jahr älter, viele sogar drei oder vier. Die meisten hatten nicht die Volksschule besucht, sondern die Realschule oder sogar das Gymnasium. Richtig alte Männer seien das für ihn gewesen, gestandene Kerle, sagt Gerd Rogge und lacht. Schließlich waren die anderen da auch erst 18 oder 19 Jahre Jahre alt. Die anderen haben ihn sofort in ihrem Kreis aufgenommen, ihn unterstützt, in der Schule geholfen. „Der Zusammenhalt war einmalig“, sagt Gerd Rogge.

Er weiß das, hat den Vergleich. Er ist selbst später Ausbilder geworden und hat hunderte von Lehrlingen ausgebildet und betreut. Aber so einen Jahrgang wie damals bei ihm, den gab es fast nie wieder. 28 Leute waren sie damals. Zwei von ihnen sind inzwischen verstorben. Zu allen anderen hat Rogge noch Kontakt. Auch fast 62 Jahre nach Ausbildungsbeginn. Sie sind auf der ganzen Welt verstreut, in Afrika, Australien, Amerika. Für nächstes Jahr hat Rogge wieder ein Ehemaligen-Treffen organisiert. Bei Airbus natürlich. Eine Werksführung ist ebenfalls eingeplant. Rogge will seine ehemaligen Kollegen selbst herumführen. Das lässt er sich nicht nehmen.

Er spricht von einer Bastelbude

Halle 9. Hier findet die Endmontage der A320-Familie statt. Es riecht nach Lack? Lösungsmittel? „Ne, das ist Kitt. Eine Reibkorrosions-Dichtungsmasse, damit die Teile nicht aneinander reiben“, sagt Rogge, während er durch die Halle läuft. Er selbst nimmt den Geruch nicht mehr wahr, nicht nach all den Jahren. Früher, direkt nach der Ausbildung, war er selbst in der Endmontage. In Halle 1, hier wurden Maschinen des Typs Nord Noratlas und Transall endmontiert. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist das jetzt her und Rogge weiß aus eigener Erfahrung, dass im Flugzeugbau heute nichts mehr so ist wie früher.

„Früher waren wir so eine Art Bastelbude“, sagt er und erzählt, wie er in der Lehre noch Drehen, Fräsen, Schweißen und Schmieden gelernt hat. Wie sie Vorrichtungen und Werkzeuge für den Flugzeugbau selbst gebaut haben. Und wie er mit seiner Werkzeugtasche von einem Einsatzort zum nächsten geeilt ist. „Heute ist alles durchorganisierter, weniger handwerklich“, sagt Rogge und nickt mit dem Kopf in Richtung Station 40, wo gerade das Fahrwerk montiert wird. „Kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass diese A320-Familie noch komplett auf Papier entwickelt wurde, oder?“

Sein Sohn ist auch schon seit 25 Jahren bei Airbus

Ende der 1980er-Jahre gehörte er zu der Arbeitsgruppe, die die Endmontage des A321 in Hamburg aufgebaut hat. Rogges Part war es, die Mitarbeiter für diese neue Aufgabe zu akquirieren und zu schulen. Er war damals Leiter der betrieblichen Ausbildung und zuständig für 50 bis 60 Fluggerätemechaniker pro Jahr während der Betriebseinsätze. 21 Jahrgänge hat er betreut, von manchen von ihnen wird er noch heute zu Treffen eingeladen. „Früher war der Ausbilder immer so etwas wie der Böse. Jemand, der gepiesackt hat, immer was wollte. Mein Anspruch war es stets, ein Freund zu sein, ein Vertrauter“, sagt Rogge und erzählt, wie er eines Tages nach Indonesien geschickt wurde, um die Luftfahrtindustrie dort beim Aufbau zu unterstützen – und erstmal im Atlas nachschauen musste, wo dieses Land überhaupt liegt.

Er war immer viel unterwegs, oft ein bis zwei Monate am Stück. „Ging nur, weil meine Frau mir den Rücken frei gehalten hat“, sagt er. Irgendwann hat sie Airbus mal als „ihre Firma“ bezeichnet. Er hat sich darüber gewundert und gesagt, dass er doch da arbeitet. Da habe sie geantwortet: „Ja, aber die Firma hat mich ernährt und mir ein gutes Leben ermöglicht.“ Rogge geht weiter, erzählt von den zwei Hochwasserkatastrophen 1962 und 1976, bei denen das Gelände überflutet und Etliches zerstört wurde. „Da hatte ich echt Angst“, erinnert er sich. Angst, dass man das nie wieder aufbauen kann. Doch es wurde wieder aufgebaut, von allen zusammen. „Blaumänner und Schlipsträger haben da eng zusammengearbeitet“, sagt Rogge. Er trägt selbst heute Krawatte.

In der Freizeit spielt er Fußball

Am Museumsplatz stoppt er. Hier stehen alte Maschinen: Nord Noratlas, Transall, Hansajet. Rogge hat an allen Modellen mitgearbeitet. Heute arbeitet sein Sohn bei Airbus. Drei Kinder hat Rogge, sein Sohn ist der „Kleinste“, wie er ihn nennt. Inzwischen ist er 48 Jahre alt – und seit 25 Jahren bei Airbus.

Rogge zeigt auf eine alte Nord Noratlas Maschine. „Die hatte ihren Erstflug, als ich hier angefangen habe“, sagt der Mann, der zwei Meisterausbildungen absolviert und ein Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen hat. Sogar fliegen hat er mal gelernt und einen Segelflugschein gemacht. Ist ihm aber nicht bekommen. „Habe da oben total die Orientierung verloren“, sagt Rogge. Er steht lieber mit beiden Beinen auf dem Boden, spielt immer noch Fußball. Bei den Super Senioren. Am liebsten im Mittelfeld, er läuft gerne.

Irgendwann wird es Zeit, er will nach Hause. Der Geburtstag! An seinem eigenen hat er übrigens auch gearbeitet.