Hamburg . 1996 begann die Geschichte der Digitalagentur SinnerSchrader. Heute ist ihr Gründer zugleich einer der Chefs von Accenture.
Die Eingangshalle ist minimalistisch gestaltet. Ein Empfangstresen, einige Sessel für Besucher. Hohe Wände, viel Schwarz. An einer Seite hat Matthias Schrader bunte Leuchtbuchstaben anbringen lassen: „Still Day One“ steht da. Sieht nach Kunst aus, passend für eine Digitalagentur wie SinnerSchrader. Praktisch jeder Mitarbeiter kommt daran vorbei, viele mehrfach am Tag.
Auch Schrader, der die Hamburger Kreativfirma vor 22 Jahren mitgegründet hat und bis heute Chef ist. „Still Day One“ ist aber auch eine Botschaft, die stete Aufforderung – wohl nicht zufällig in Anlehnung an die Day-One-Philosophie von Amazon-Gründer Jeff Bezos – jeden Tag wie einen Neuanfang zu betrachten.
Das passt zu dem Mann, der als einer der Internet-Pioniere Deutschlands gilt und SinnerSchrader nicht nur durch die New-Economy-Krise steuerte, sondern zu einem führenden Berater für digitale Transformationsprozesse machte. Da denkt man an jemanden, der viel und laut redet. Einen, der durch die Welt jettet, Netzwerke knüpft und ein dickes Auto fährt. Zumindest einen Tesla. Doch Matthias Schrader kommt jeden Tag mit dem E-Smart ins Büro in einem Gebäudekomplex in Ottensen, von wo aus die Agentur für Großkunden wie Audi, Allianz, Telefonica und TUI arbeitet. Er trägt fast immer Dunkelblau, kantige Brille – kein großer Auftritt.
Alle nennen ihn nur Mattes
Mattes, wie ihn hier alle nennen, gehört zu den besonnenen Managern, denen, die erklären und überzeugen wollen. Er spricht eher leise, formuliert präzise. Seit einigen Monaten ist der 51-Jährige nicht nur Vorstandsvorsitzender von SinnerSchrader, sondern auch Chef für den deutschsprachigen Raum bei der weltweit größten Digitalagentur Accenture Interactive mit 1500 Mitarbeitern. Denn seit zwei Jahren schon gehört SinnerSchrader mehrheitlich zu Accenture, der stark expandierenden Management- und Technologieberatungsgesellschaft.
Schrader hat seine Firmenanteile verkauft. Wachstum gegen Selbstständigkeit, aus seiner Sicht der Weg, um weiter bei den Großen in der Branche mitzumischen. „Wir sind in der zweiten Digitalisierungswelle“, sagt der erfahrene Agenturmann. Inzwischen kommen die milliardenschweren DAX-Konzerne zu den Digitalverstehern aus Hamburg. „Wenn man für einen Automobilhersteller ein weltweites Vertriebssystem entwickeln soll und noch ein paar andere Projekte hat, ist man mit 500 Mitarbeitern plötzlich klein. Zusammen mit Accenture ist unser Potenzial deutlich gestiegen.“
Groß, größer, am größten. Superlative sind fester Bestandteil der DNA von SinnerSchrader. Die Geschichte begann 1996 im Literaturhaus-Café an der Alster. Kurz vorher hatten die Gründer sich bei einer Online-Messe kennengelernt: Matthias Schrader, Informatikstudent, der für Computermagazine über Tricks und Kniffe bei der Atari-Nutzung schrieb und viel über das Internet wusste − Oliver Sinner, Betriebswirt, der damals für Otto arbeitete und ein begnadeter Netzwerker war. „The Brain“ (Sinner über Schrader) und „der Türöffner“ (Schrader über Sinner), so beschrieb das Abendblatt dieses Gründerduo damals.
Mit 35 Euro startete die Gründung
Zwei Tage nach der ersten Verabredung ließen sie ihr Unternehmen beim Ortsamt Barmbek-Uhlenhorst eintragen: Sinner+Schrader, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts – für 35 Euro Gebühren waren sie Gründer der frühen New-Economy-Ära. Im Kinderzimmer der Familie Schrader, zwischen den Windeln der gerade geborenen Tochter, bastelten die Hamburger an den ersten Aufträgen. E-Commerce-Lösungen und Internetauftritte für junge Unternehmen wie die Jenaer Softwareschmiede Intershop, das Online-Auktionshaus Ricardo oder die Plattform buecher. de des Buchgroßhändlers Libri. Ende 1999 ging SinnerSchrader an die Börse und sammelte umgerechnet 28 Millionen Euro ein.
„Das Internet ändert alles“, lautete damals der erste Satz ihrer Imagebroschüre. Die Agentur wuchs schnell, gehörte zu den Lieblingen des Neuen Marktes mit Bewertungen im dreistelligen Millionenbereich und gut 500 Mitarbeitern – bis die Blase nach der Jahrtausendwende platzte. Auch SinnerSchrader musste Verluste verkünden, der Börsenkurs stürzte von 90 auf unter vier Euro pro Aktie.
Oliver Sinner stieg 2002 aus
2002 war Sinner aus dem aktiven Geschäft ausgestiegen, heute ist er Hotel- und Restaurantbesitzer in seinem Heimatort Grömitz. Schrader, der bislang eher im Hintergrund gearbeitet hatte, übernahm den Chefsessel und verordnete der Agentur eine drastische Schrumpfkur mit Konzentration „auf die digitalen Schnellboote der großen Unternehmen“. Gemeint sind Neugründungen wie Comdirect, Simyo oder TUI Fly, in denen große Konzerne digitale Geschäftsmodelle ausprobierten.
Schraders Kurs war erfolgreich. Auch langfristig. SinnerSchrader hat heute 600 Mitarbeiter, im Geschäftsjahr 2017/18 steigerte die Aktiengesellschaft unter Accenture-Flagge den Umsatz auf 64,3 Millionen Euro. Dieser soll nun jedes Jahr zweistellig wachsen. So eloquent er über die Firma sprechen kann, über Schrader gibt Schrader nicht gerne Auskunft. Er wuchs in Harburg, im Stadtteil Fischbek auf, wohnte auch als Dotcom-Millionär zur Miete in einer Doppelhaushälfte in der Nähe von Neuwiedenthal. Heute lebt der Familienvater, der eine 22-jährige Tochter aus erster Ehe und zwei Jungen im Alter von sieben und neun hat, in Groß Flottbek. Er sei „total langweilig“, hat er mal in einem Interview gesagt. Nicht einmal richtige Hobbys konnte er nennen. Darüber, was der Verkauf seiner SinnerSchrader-Anteile ihm eingebracht hat, gibt er keine Auskunft.
Was Geld angeht, hat er sowieso seine sehr eigene Sicht: „Alle, die durch den Neuen Markt gegangenen sind und dreistellige Millionenbeträge auf dem Papier besaßen, haben mit dem Thema psychologisch abgeschlossen. Man kann nur zwei Steaks am Tag essen.“ Klar ist, arbeiten müsste er nicht mehr. „Es macht mir Spaß“, sagt Schrader, der 2017 von der Fachzeitschrift „Horizont“ als Agenturmann des Jahres und 2018 mit dem Hamburger Marketing- Award „Hamma“ ausgezeichnet wurde. Er wolle etwas bewirken.
Unternehmer-Jahre haben ihn gelehrt
Schon 2006 hatte der Agenturchef in Hamburg die NEXT Conference ins Leben gerufen, die sich zur führenden Digital-Konferenz Deutschlands entwickelte. Für die Zukunft seines Unternehmens sieht er die Zeichen positiv. Die Fragestellungen der digitalen Welt sind vielfältig und komplex. Ob es darum geht, wie Autohersteller sich auf das autonome Fahren vorbereiten oder wie Banken in Zeiten digitaler Bezahlsysteme Kunden binden, Berater werden gebraucht. Es schwingt jedoch immer ein kleines „aber“ mit.
Die Jahre als Unternehmer hätten ihn Demut gelehrt, sagt Matthias Schrader. Auf den Tischchen vor den Besuchersesseln in der Eingangshalle liegen auch einige Bücher über das Digitale und die einhergehenden Veränderungen. Autor: Matthias Schrader. „Wir suchen Lösungen, um das Leben einfacher, praktischer und manchmal auch unterhaltsamer zu machen.“ Und das jeden Tag wie am ersten.
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