Hamburg. Vom Hoffnungsträger zum Auslaufmodell, Teil 2: Rostock und Hamburg kämpfen um Produktion. Es geht um Hunderte Millionen.

Drei Holzkutter segeln dicht nebeneinander auf der Elbe zwischen Nienstedten und Finkenwerder. „Rettet das Mülo“ steht in großen schwarzen Buchstaben auf dem weißen Segel der „Övelgönne“. Mülo steht als Abkürzung für Mühlenberger Loch. „Unsere drei Boote sind zwar nur ein kleines Zeichen, aber wir wollen zeigen, dass die Bürger den Senatsbeschluss ablehnen“, sagt Kutterführer Michael Schultz im Frühsommer 1998.

Wenige Tage zuvor hat das Hamburger Regierungsbündnis aus SPD und Grün-Alternativer Liste (GAL) den Weg frei für eine standortpolitische Grundsatzentscheidung gemacht. Am 9. Juni 1998 beschließt der Senat, sich für die Endmontage des A3XX (dem späteren A380) von Airbus zu bewerben – auch wenn dafür ein Teil des Mühlenberger Lochs zugeschüttet werden muss.

Industrielles Zukunftsprojekt

Aus der Sicht von Wirtschaftssenator Thomas Mirow (SPD) geht es um die einmalige Chance, der Hansestadt das „industrielle Zukunftsprojekt des 21. Jahrhunderts“ zu sichern. Hamburg werde „jede Möglichkeit nutzen“, den Wettbewerb mit den internationalen Rivalen Sevilla, St. Nazaire und Toulouse zu gewinnen – und auch den starken Mitbewerber aus Deutschland in die Büsche zu schlagen.

So sieht die Baustelle Mühlenberger Loch im März 2002 aus der Luft aus. Insgesamt 170 Hektar werden zugeschüttet.  FOTO: dpa/PA
So sieht die Baustelle Mühlenberger Loch im März 2002 aus der Luft aus. Insgesamt 170 Hektar werden zugeschüttet. FOTO: dpa/PA © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / DB Airbus

Rostock lockt mit viel Geld. Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) stellte wenige Wochen zuvor bis zu 700 Millionen Mark Fördermittel in Aussicht. Mit der Fertigung des A3XX will er ein industriepolitisches Prestigeprojekt in das strukturschwache Mecklenburg-Vorpommern holen. Das Land würde „das Werk mit Kusshand nehmen“, sagt Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU). Und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) plädiert für Rostock („Ich bin dafür“). So eine Standortentscheidung wäre aus seiner Sicht ein Bekenntnis zum Aufbau Ost.

Aussicht auf Arbeitsplätze

In Hamburg sorgt Kohls Position für Verärgerung. Der Erste Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) verurteilt die „Intervention des Bundeskanzlers auf das Schärfste“. Schließlich musste Runde die Bewerbung um die A3XX-Fertigung gegen Widerstände des Koalitionspartners GAL durchfechten. Letztlich war die Aussicht auf viele neue Arbeitsstellen für die Koalition wohl zu verlockend, um gegen die Ansiedlung zu sein.

Der europäische Flugzeugbauer verbindet große Versprechen mit dem A3XX. „Airbus rechnet mit 4000 neuen Arbeitsplätzen, davon 2000 in unserem Unternehmen und 2000 bei Zulieferfirmen“, sagt Manager Gustav Humbert im Abendblatt-Interview Anfang 1999. Dabei handele es sich zudem um die im Hochlohnland Deutschland benötigten „intelligenten Jobs“.

Für das geplante größte Passagierflugzeug der Welt ist er optimistisch. Für die nächsten 20 Jahre werde ein Bedarf von rund 1300 Flugzeugen mit mehr als 400 Sitzen erwartet. „Von diesem Riesenmarkt will Airbus mindestens die Hälfte“, sagt Humbert. Das wären 650 A3XX-Maschinen. Eine Alternative zum Mühlenberger Loch gebe es nicht, so Humbert: „Die Erweiterung muss in engster logistischer Anbindung an das vorhandene Werksgelände erfolgen und die vorhandene Infrastruktur nutzen sowie eine vorgegebene Größe haben.“ Wenn man dies nicht realisiere, habe man keine optimale Bewerbung und weniger Chancen gegenüber den anderen Bewerbern.

Größtes Süßwasserwatt Europas

Das Mühlenberger Loch, eine 675 Hektar große Elbbucht vor Finkenwerder, wird nun zum Hauptstreitpunkt. Es gilt als das größte Süßwasserwatt Europas und ist als Landschafts- und Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Viele Vögel nutzen es auf dem Weg nach Norden als Rast- und Nahrungsgebiet. Jährlich landen dort bis zu 2000 Löffelenten. Ein Viertel der Bucht, die früher für den Flugzeugbau schon mal ausgebaggert wurde, soll zugeschüttet werden.

In der Stadt ist die Stimmung gespalten. Es gibt viele Befürworter, aber auch viele Gegner. Die Pläne lösen eine Klageflut aus, auch von Prominenten. Der Regisseur Hark Bohm („Nordsee ist Mordsee“) gehört ebenso dazu wie der Verleger Heinz Bauer. Während die einen aus ökologischen Gründen handeln, sind andere eher aus persönlichen Gründen aktiv. Zahlreiche Kläger wohnen in noblen Lagen am Elbhang gegenüber dem Airbus-Werk und fürchten unter anderem eine Zunahme des Flugverkehrs auf dem Betriebsflughafen.

2000 erhält Hamburg den Zuschlag von Airbus

Im Juni 2000 verkündet Airbus seine Entscheidung. Hamburg erhält neben Toulouse den Zuschlag als A3XX-Endmontageort. „Das ist ein Quantensprung für den Luftfahrtstandort Hamburg“, sagt Wirtschaftssenator Mirow. Das Werk auf Finkenwerder baut zunächst große Teile des Rumpfes, die dann zum Zusammenschrauben nach Toulouse gebracht werden. Von dort fliegen die fast fertigen Flugzeuge nach Hamburg, um hier die Innenausstattung und Lackierung zu erhalten. Die Auslieferung an Kunden aus Europa (außer Air France) und dem Nahen Osten findet ebenfalls an der Elbe statt.

Im Oktober gibt die Bürgerschaft das Geld frei für das Vorhaben. Knapp 700 Millionen Euro an Steuergeldern werden für das Vorhaben genehmigt. SPD, CDU und GAL stimmten für die Freigabe der Mittel, nur fünf Abgeordnete der Regenbogen-Fraktion (einer GAL-Abspaltung) votieren dagegen.

Die Arbeiten am Mühlenberger Loch beginnen, geklagt wird aber auch weiterhin gegen das Projekt. Im Februar 2001 gibt Wirtschaftsstaatsrat Heinz Giszas mit zwei Schlägen einer Schiffsglocke das Startzeichen für die erste Rammung. Insgesamt sind elf Millionen Kubikmeter Sand nötig. Das entspricht im Volumen einem Würfel mit mehr als 100 Metern Kantenlänge. Gut ein Jahr später wird der Grundstein für die erste Montagehalle auf dem zugeschütteten Teil gelegt, im September 2002 ist die Fläche weitgehend fertig.

Obstbauern sind auf Zinne

Zehn Monate später erteilt der Senat die Freigabe für die nächste umstrittene Maßnahme. Die Start- und Landebahn soll in Richtung Süden um 589 auf 3273 Meter verlängert werden. Airbus begründete sein Ersuchen mit dem Bau eines geplanten A380-Frachters. Und droht etwas versteckt, aber doch deutlich: Wenn sich das Projekt nicht realisieren lasse, würden sich wohl die Gewichte zwischen den Standorten des Konzerns verschieben. Gemeint ist: zum Nachteil Hamburgs.

Die geplante Pistenverlängerung bringt die Obstbauern aus dem Alten Land auf die Zinne. Sie befürchten die Zerstörung ihrer Existenzgrundlage. Vor Obsthöfen stehen Schilder mit großen Buchstaben: „Airbus-Landebahn? Kein Bedarf!“ In Neuenfelde sperren sich die Kirchengemeinde und zwei Grundstückseigentümer zunächst gegen den Verkauf. Schließlich ändert ein Obstbauer die Meinung und verkauft seine vier Grundstücke. Dem Ausbau der Piste steht nichts mehr entgegen. Im Juli 2007 ist sie fertig. „Zeitweise hätte es niemand für möglich gehalten, aber wir haben es geschafft“, sagt Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) und verweist darauf, 241 Prozesse gewonnen zu haben.

Und heute? Sind die Prozesse ad acta gelegt? „Zur Landebahnverlängerung laufen noch Klagen vor dem Verwaltungsgericht Hamburg“, sagt Manfred Braasch, Landesgeschäftsführer vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Das wird noch mal interessant.“ Denn die Grundlage für die Startbahnverlängerung sei weggefallen. Begründet wurde sie mit der Frachterversion des A380 – doch die wurde mangels Nachfrage nie realisiert. S

auer ist Braasch vor allem darüber, dass ein Teil der Ersatzmaßnahmen für die Zuschüttung des Mühlenberger Lochs bis heute nicht umgesetzt wurden. „Der Ausgleich für diesen gewaltigen Eingriff muss nach 20 Jahren endlich umgesetzt werden.“ Rechnerisch sei zwar nur ein Viertel der Fläche betroffen gewesen, es habe sich aber um den ökologisch wertvolleren gehandelt. Braaschs Fazit: „Das Mühlenberger Loch hätte nie geopfert werden dürfen.“

Die Zahl der Mitarbeiter steigt von 7800 auf 12.700

Bei der Stadt sieht man das naturgemäß anders. Mit der Werkserweiterung und dem Ausbau der Startbahn auf Finkenwerder habe Hamburg die Basis für die Zukunftssicherung des Standortes zur Auslieferung von Großflugzeugen gelegt. Hoch qualifizierte Arbeitsplätze seien entstanden, Kompetenzen aufgebaut, viele Arbeitspakete gesichert worden. „Der A380 ist für den Standort Hamburg eine Erfolgsgeschichte“, sagt Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) am Donnerstag – als Airbus die Einstellung des A380-Programms für 2021 ankündigt. Denn die getätigten Investitionen seien nachhaltig und kämen anderen Produktionslinien zugute, so der Senator. Das betrifft in erster Linie die A320-Familie, die ein Verkaufsschlager ist.

Heute stehen auf der Erweiterungsfläche, die bei Airbus „Mühlenberger Sand“ heißt, fünf mächtige Gebäudekomplexe. Und in der Tat ist die Zahl der Arbeitsplätze bei Hamburgs größtem Industriebetrieb stark gestiegen, von 7800 im Jahr 2000 auf 12.700 Ende 2018. Die Zielmarke von 2000 neuen Stellen im eigenen Unternehmen wurde übererfüllt. Bei der Zahl der verkauften A380 hat sich Airbus allerdings kräftig vertan: Statt mindestens 650 wird wohl bei Nummer 251 Schluss sein.

Lesen Sie am Mittwoch Teil 3 auf www.abendblatt.de: Kabeldesaster stürzt Airbus in tiefe Krise