Gründer waren Naturheilkundler – heute wirkt manches altbacken. Häuser haben nun berufstätige, social-media-affine Mütter im Visier
Oberursel. Drogerien, Bio-Supermärkte und Einkaufszentren haben die Reformhäuser in Deutschland in Bedrängnis gebracht. 125 Jahre nach der Gründung der „Gesundheits-Zentrale“ in Berlin – dem Vorläufer – wirkt so manches Reformhaus zudem recht altbacken.
Die Genossenschaft Neuform und viele Inhaber haben das erkannt und steuern dagegen. Seit 2009 steigt der Umsatz allmählich wieder. Fachleute bewerten das Potenzial der Reformhäuser unterschiedlich. „Wir werden in den nächsten zwei, drei Jahren noch das ein oder andere Mitglied – meist altersbedingt – verlieren“, sagt Neuform-Vorstand Rainer Plum. Der Umsatz werde aber weiter wachsen, und die Absatzstellen langsam zunehmen.
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Einst von engagierten Vegetariern und Verfechtern der FKK-, Barfuß- und Naturheilkundebewegung gegründet, gab es in der Hochzeit der 1980er Jahren noch 2500 Reformhäuser. Inzwischen sind es noch gut 1000, rund 1500 sollen es in einigen Jahren wieder sein. Als Umsatzziel peilt Plum mittelfristig eine Milliarde Euro an. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg: Für das laufende Jahr prognostiziert der Verband ein Plus von knapp zwei Prozent auf 615 Millionen Euro. Im ersten Halbjahr betrug der Zuwachs schon gut zwei Prozent.
Wie sieht das moderne Reformhaus aus? „Wellness orientierte Einkaufsstätten und Bühnen des Zeitgeistes“, sagt Plum. Nicht mehr „der 62 Jahre alte Mann mit Blasenschwäche“ soll den Menschen beim Reformhaus einfallen, sondern die „35 Jahre alte berufstätige Mutter als Social Media affine Familiengesundheitsmanagerin“.
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Kernzielgruppe seien bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, die auf ökologische, nachhaltige und faire Produkte Wert legten. Das wachsende Gesundheits- und Umweltbewusstsein sowie Lebensmittelunverträglichkeiten böten Wachstumschancen. Zugleich steige die Zahl der Teilzeit-Vegetarier, Hedonisten und Ausdauersportler, die sich im Reformhaus eindeckten. Der demografische Wandel und das Fachgeschäfte-Sterben setzten dem Wachstum allerdings auch Grenzen.
Prof. Ulrich Hamm, Fachmann für Agrar- und Lebensmittelmarketing an der Uni Kassel, sagt den Reformhäusern eine schwierige Zukunft vorher. Sie hätten am Wachstum des Biomarktes in den vergangenen Jahren nicht teilhaben können, weil ihnen ein klares Profil fehle. Auch der medizinisch-technische Fortschritt habe ihnen zugesetzt, so seien etwa Diabetiker-Produkte weitgehend vom Markt verschwunden. „Die Stärke der Reformhäuser war die Beratung.“ In Zeiten von Internet und Smartphones könnten sich die Menschen aber schnell selbst die gewünschten Informationen verschaffen.
Vertriebsleiter Fabian Ganz vom Marktforschungsinstitut Biovista sieht das anders. „Die Branche ist weiterhin resolut.“ Die Beratung sei besonders kompetent, das Angebot unschlagbar und auf das Qualitätssiegel sei Verlass. „Ärzte schicken ihre Patienten beispielsweise bei Lebensmittelunverträglichkeiten direkt ins Reformhaus.“
In einigen Reformhäusern kann sich der Kunde schon an öffentlichen Terminals über jedes Produkt genau informieren, berichtet Plum. Die Branche setzte zudem auf ihre Kernkompetenz, die freundliche Fachberatung der an der Reformhaus-Fachakademie ausgebildeten Verkäufer. Neuform sei zudem neuerdings nicht mehr Eigenmarke der Reformhäusergenossenschaft, sondern das neue Qualitätszeichen. Seither könnten diese Produkte auch im ökologischen und qualitativen Handel verkauft werden. Davon und von der steigenden Nachfrage nach Naturkosmetik erhoffe sich Neuform auch Wachstumsimpulse.
„Die Kernkompetenzen der Reformhäuser sind Kosmetik und Ernährung jenseits von Bio“, betont Anja Kirig vom Zukunftsinstitut in Kelkheim. Sie sieht die Chancen in der Entwicklung zu Alternativ-Apotheken. Superfoods – Nahrungsmittel mit gesundheitlichen Vorteilen – und natürliche Nahrungsergänzungen wie Chia-Samen oder Goji-Beeren passten wunderbar in das Angebot.
Je nach Größe haben die Reformhäuser 4000 bis 8000 Produkte im Sortiment, sagt Plum. Gut die Hälfte davon sind Lebensmittel – davon wiederum ungefähr acht Prozent frische. 19 Prozent entfällt auf Naturkosmetik, der Rest auf Natur-Arznei und -Ergänzungsmittel. Weniger als 10 Prozent der Geschäfte haben die rein vegetarische Linie verlassen und verkaufen auch Bio-Fleisch und Wurst. Denn die Vielfalt der Reformhäuser wächst. Die kleinen in Top-City-Lagen oder Bahnhöfen punkten mit kleinen Bistros. Andere haben Bio-Supermärkte integriert. Und das Angebot der Großen reiche von der Saft-, Wasser- und Olivenöl-Bar über unterschiedlich gekühlte Weinregale bis zur Naturkosmetikbehandlung.