Während Europa kaum noch Wachstum verzeichnet, gewinnen Märkte jenseits der EU – China, Brasilien, USA – für Hamburger Firmen an Bedeutung.
Hamburg. Russland, Brasilien, Türkei: Deutlich hob Hans-Otto Schrader bei der Bilanzpressekonferenz der Hamburger Otto Group Ende Junijene Länder hervor, die dem Management des weltgrößten Versandhandelskonzerns derzeit besondere Freude bereiten. Weil sie Perspektiven bieten, die das Geschäft in Westeuropa längst nicht mehr aufweist. Die Türkei, sagte Schrader, werde nach Russland und Brasilien "als weiterer strategischer Wachstumsmarkt" für den elektronisch gestützten Warenhandel ins Visier genommen. Der Blick auf Europa bot dagegen wenig Erfreuliches: Der Konzernchef berichtete über die schleppenden Geschäfte in Frankreich und Großbritannien sowie über Probleme in Deutschland.
Auch der Flugzeugbauer Airbus mit seinem Werk auf Finkenwerder überraschte Anfang der Woche die Öffentlichkeit, als er den Bau einer Fabrik für kleine Jets der A320er-Serie im amerikanischen Mobile (Alabama) bekannt gab. Investitionsvolumen: 600 Millionen Dollar. Neue Jobs: 1000. In China montiert Airbus seine Flieger bereits seit 2008 zusammen. Europa schwächelt, das Kapital sucht sich seinen Weg in prosperierende Regionen - weltweit. Hamburger Maschinenbauer wie Jungheinrich oder Chemiehändler wie die Helm AG expandieren schon seit Jahren kräftig außerhalb Europas.
Die Schuldenkrise in der Europäischen Union mit ihren 27 Staaten und besonders deren Auswirkungen im gemeinsamen Währungsraum des Euro werfen Europa wirtschaftlich zurück. Für 2012 wird die 17 Staaten umfassende Euro-Zone wohl eine schrumpfende Wirtschaft verzeichnen. Wann die Rezession überwunden werden kann, ist offen. Noch zu Beginn der 2000er-Jahre sollte die EU zum leistungsstärksten Wirtschaftsraum der Welt ausgebaut werden, so lautete die ehrgeizige "Lissabon-Strategie" der Staats- und Regierungschefs beimEU-Gipfeltreffen im März 2000. Davon ist längst keine Rede mehr. Seit Jahren ringen die EU-Mitglieder um riesige Hilfspakete und um die richtigen Wege, den drohenden finanziellen Absturz der Staatswesen vor allem in Südeuropa abzuwenden. Bei all den Krisengipfeln blieb die Entwicklung eines dynamischeren und stärkeren europäischen Binnenmarktes auf der Strecke.
Europa verzeichnet, trotz einer immer noch erstaunlich vitalen deutschen Wirtschaft, kaum noch Wachstum. Die EU verliert dadurch an innerer Stärke sowie zugleich an Konkurrenzfähigkeit und Attraktivität nach außen - als Schöpfer wirtschaftlicher Werte, aber auch als deren Absatzmarkt. Denn der globale Wettbewerb um die besten und modernsten Güter und Dienstleistungen lief in den vergangenen Jahren weiter. Ungeachtet der Dauerkrise, die seit 2008 fast ohne Unterlass die politische Tagesordnung in Europa bestimmt.
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Vor allem in den Schwellenländern Asiens, aber auch in Brasilien wachsen neue, kaufkräftige Mittelschichten heran und mit ihnen weltweit agierende Konzerne. Obendrein sind auch die USA, trotz vielfältiger wirtschaftlicher Probleme, noch immer in der Lage, ökonomische Schwergewichte hervorzubringen wie in jüngerer Zeit etwa die Internet-Plattform Facebook.
Unternehmen wie der Mischkonzern Samsung in Südkorea bestimmen die Entwicklungen zum Beispiel bei der boomenden Smartphone-Technologie inzwischen maßgeblich mit - mindestens so sehr wie das US-Unternehmen Apple, das mit dem iPhone als Pionier dieser Gerätegeneration gilt. Europas Wirtschaft hingegen hat zum Jahrhundertmarkt des Internets und der mobilen Kommunikation technologisch nur wenig beizutragen. Nokia aus Finnland, lange Weltmarktführer bei der Produktion von Mobiltelefonen, kämpft seit Jahren gegen den Abstieg. Allein seit 2010 verlor der Konzern rund 40 000 Arbeitsplätze, mehr als ein Viertel der gesamten Belegschaft.
Nokias Niedergang steht symbolisch für die wirtschaftliche Erstarrung in Europa vor allem bei den modernen Kommunikationstechnologien. Die mangelnde Dynamik in der EU schlägt auch auf die Bewertung der europäischen Unternehmen durch. Nur 32 europäische Konzerne tauchen in der Rangliste der 100 wertvollsten börsennotierten Unternehmen auf, die kürzlich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young präsentierte. An der Spitze stehen Konzerne aus den USA wie Apple und aus China wie der Ölkonzern Petrochina. Bei der letzten Analyse vor eineinhalb Jahren enthielt die Liste noch 36 europäische Adressen.
"Immer wieder schaffen es die USA, Unternehmen hervorzubringen, die sich binnen relativ kurzer Zeit in die Weltspitze hocharbeiten", sagt Thomas Harms, Partner bei Ernst & Young. "Diese Innovationskraft ist die große Stärke der USA, die sich auch indem Ranking widerspiegelt." 43 der100 wertvollsten Konzerne sind derzeit US-Unternehmen - ihre Zahl in der Ernst & Young-Liste nimmt seit Jahren wieder zu.
Die Fähigkeit, eine so umfassende Krise durch Aufbruch und Erneuerung zu überwinden, scheint der europäischen Wirtschaft derzeit abzugehen. "Europa hätte auch ohne die Finanz- und Schuldenkrise in der Weltwirtschaft an Bedeutung verloren. Das ergibt sich zwangsläufig schon aus dem wachsenden Gewicht von Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien", sagt der Ökonom Jörg Hinze vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). "Aber trotzdem muss die Europäische Union alles dafür tun, um moderner und wirtschaftlich leistungsfähiger zu werden. Entscheidend dafür wird sein, ob die EU-Mitglieder enger zusammenrücken, ob es deutliche Fortschritte bei der Technologie- und Innovationspolitik gibt - und ob die kriselnden Staaten endlich strukturelle Reformen vornehmen werden." Für die kommenden Jahre jedoch, sagt Hinze, erwarte das HWWI in der Europäischen Union "bestenfalls ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von einem bis 1,5 Prozent".
Noch herrscht in der Hamburger Wirtschaft Zuversicht. "Natürlich steht Deutschland als große, offene Volkswirtschaft im Risiko, durch die Umbrüche der Weltwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Aber in der aktuellen Entwicklung der Hamburger Unternehmen ist das bislang nicht zu sehen", sagt Dirck Süß, Chefvolkswirt der Handelskammer Hamburg. Diegute Stimmung der Hamburger Wirtschaft aus dem Konjunkturbarometer für das erste Quartal 2012 setze sich in der Umfrage für das zweite Quartal fort, die in der übernächsten Woche präsentiert werden soll: "Die ersten Ergebnisse, die uns vorliegen, zeigen, dass sich die Stimmung nicht eintrübt", so Süß.
Auch für die hamburgischen Unternehmen, die im Außenhandel tätig sind, ist Europa der wichtigste regionale Markt - wie für die deutsche Wirtschaft insgesamt. Aber die exportorientierten Unternehmen in der Metropolregion seien längst stark über die EU hinaus organisiert, sagt Süß: "Hamburgs Wirtschaft ist nicht nur in Europa aktiv. Über die Stadt wird ja ein wesentlicher Teil des gesamten deutschen und teilweise auch des europäischen Welthandels abgewickelt." Die "große Erfahrung" der Hamburger Kaufmannschaft trage sicher dazu bei, auch angesichts der Krise den Optimismus zu wahren.
Den europäischen Markt hat die Wirtschaft Hamburgs trotz der Krise nicht abgeschrieben. "Europa ist nach wie vor unser Kernmarkt. Und weltweit ist die EU der zweitgrößte Markt für Kupferprodukte nach China", sagt Michaela Hessling, Sprecherin des Kupferherstellers Aurubis. Der Konzern profitiert davon, dass das Halbedelmetall Kupfer für etliche Industrieprodukte unverzichtbar ist - im Maschinenbau, in der Automobil- und Bahnindustrie sowie in der Konsumentenelektronik.
Gerade der Bedarf für die breite und grundlegende Anwendung von Kupfer trägt den Optimismus im Unternehmen auch für die weitere Entwicklung in der EU. "Auch wir spüren die Wirtschaftskrise in Europa", sagt Hessling. In Ländern, die stark unter der Krise leiden wie etwa Griechenland, verzögerten sich viele Investitionen. Man setze aber darauf, dass diese Investitionen zurückkehren werden, etwa in die Infrastruktur und in die Energieversorgung. Hesslings Hoffnung: "Davon profitiert dann auch wieder ein Kupferhersteller wie Aurubis."