Vor dem EU-Gipfel gab die Kanzlerin eine harte Verhandlungslinie aus. Doch Mario Monti setzt durch, dass die Hürden für Nothilfen gesenkt werden.
Brüssel. Verbal lässt sich eine jede Niederlage ummünzen in ein Standhalten, einen Sieg am Ende sogar. "Wir haben eine gute Entscheidung getroffen", sagte die Kanzlerin, sichtlich erschöpft, die Augenlider schwer, die Haare aus der Fasson. Linie und Prinzip deutscher Hilfsbereitschaft seien eingehalten worden: "Keine Hilfe ohne Gegenleistung." Aber die Frau, die in den vorangegangenen zwölf Stunden die Einigung verhandelt hatte, die Frau, die Freitagmorgen gegen 4.45 Uhr aus dem EU-Ratsgebäude kam, verhielt sich nicht wie eine Siegerin.
Merkels Leute hatten das Pressing unterschätzt, mit dem die Italiener auf dem Euro-Gipfel auftreten sollten; die neue Phalanx, die sich gegen die bisher in der Krise dominanten Deutschen aufgebaut hatte, unter der Führung von Mario Monti. Dabei hatte Italiens Premier seine Erwartungen an das Treffen schon Tage zuvor klargemacht: Die Euro-Zone müsse jetzt Sofortmaßnahmen ergreifen, um den Südländern zu helfen: "Sonst droht die Katastrophe, sonst fährt der Euro zur Hölle." Das war ein Ton, den niemand von dem Ökonomen erwartet hatte, am wenigsten in Berlin. Dort hatte der ehemalige EU-Kommissar lange Zeit als Idealbesetzung gegolten, um das Land aus dem von Silvio Berlusconi hinterlassenen Desaster zu führen. Die Einschätzung, es gebe in Italien keinen besseren als Monti, ist allerdings immer noch weit verbreitet.
Im Gegensatz zu Merkel wusste Frankreichs Präsident bereits vor Beginn des Gipfels, was der Italiener im Verbund mit Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy plante. Am Donnerstagmittag gegen 14 Uhr, kurz vor Beginn der Tagung, unterrichtete Monti Hollande von ihrer geplanten Blockade des Wachstumspakts. Milliarden an Konjunkturhilfe seien gut und schön - aber sowohl Rom als auch Madrid stehe das Wasser bis zum Hals. "Es gibt in Spanien bereits Behörden, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können", warnte Rajoy. Bis kurz vor Gipfelbeginn hatte ein deutscher Regierungsbeamter das noch als "Panikmache" abgetan.
+++ Zwei-Drittel-Mehrheiten für Fiskalpakt und ESM +++
Doch Monti und Rajoy war es ernst. Sie brachten das Gipfelprogramm von EU-Präsident Herman Van Rompuy heftig durcheinander. Die 27 EU-Chefs berieten mit Parlamentspräsident Martin Schulz zumindest noch die - ebenfalls heftig umstrittene - Finanzplanung ab 2014. Danach stand der Wachstumspakt an, das Lieblingsprojekt von Hollande. Eigentlich hatte Merkel erwartet, dieses Thema schnell abzuhaken. Schließlich hatte sie das 120-Milliarden-Paket bereits Freitag vergangener Woche mit Monti, Rajoy und Hollande in Rom vereinbart. Es schreibt den EU-Ländern Strukturreformen vor und belohnt dafür mit der Aussicht auf Investitionen, angeregt durch Kredite der Europäischen Investitionsbank und durch Mittel aus den Strukturfonds.
Für die Kanzlerin hingen an dem Paket indessen weit mehr als europapolitische Zusagen. Ohne seine Verabschiedung wollte die Opposition zu Hause dem Fiskalpakt und dem Rettungsschirm ESM nicht zustimmen. Auf einmal musste auch Merkel das Wachstumspaket mit nach Hause bringen - und nicht mehr nur Hollande, der damit ein Wahlversprechen einlöste.
Doch dann begann "Montis Show", voller Verve, gravitätisch erklärte der Italiener die dramatisch Finanzlage, berichten Teilnehmer. Und blockierte die Verabschiedung des Pakts: Italien und Spanien würden nur mitmachen, wenn auch kurzfristig in die Krise eingegriffen würde. "Wir müssen bis zum Morgen den Märkten eine überzeugende Lösung bieten", sagte ein italienischer Diplomat. So redete Monti die Bedrohung herbei, die er anschließend entschärft haben wollte. Er war nach Brüssel gereist mit dem Erfolg, eine Arbeitsmarktreform - das wichtigste Vorhaben seiner Amtszeit - durch das Parlament gebracht zu haben. Nun wollte er eine Belohnung bekommen. Er musste. Sonst hätte es ihn sein Amt kosten können. Die Parteien, die ihn stützen, drohten bereits mit einem Ende der Gefolgschaft. Es könne also nicht nur über Wachstum geredet werden, wenn nicht auch etwas gegen die Schulden getan werde, warb Monti bei den europäischen Partnern. An seiner Seite kämpfte der Spanier Rajoy. Um Merkel wurde es einsam. Die Finnen, die immer auf deutscher Linie waren, wollten den Südländern ebenfalls unter die Arme greifen und schlugen als Lösung Pfandbriefe vor. Die Unterstützung der sparsamen Niederländer reichte nicht aus, um dem Widerstand aus dem Süden genug entgegenzusetzen.
+++ Euro: Wie Deutschland zweimal gegen Italien verlor +++
Gegen 1 Uhr nachts gab es ein Nachsitzen für die Vertreter der Euro-Zone. Rund zehnmal trafen sich Merkel und Monti zu kurzen vertraulichen Gesprächen zu zweit, steckten die Köpfe zusammen. In einem Nebenraum schoben sich Unterhändler Papiere hin und her, feilschten um Sätze, strichen Wörter und setzen andere ein. Für Merkel verhandelten Nikolaus Meyer-Landrut, Abteilungsleiter der Europa-Abteilung im Kanzleramt, und Lars-Hendrik Röller, ihr Wirtschaftsberater. Irgendwann tief in der Nacht hatten sich die Arbeitsrunden auf die eineinhalb Seiten Erklärung geeinigt, der anschließend die Regierungschefs zustimmen. Um 4.45 Uhr rief Van Rompuy die verbliebenen Journalisten in den Pressesaal und verkündete die Einigung: "Der Teufelskreis zwischen Staatsfinanzen und Banken muss durchbrochen werden."
+++ Leitartikel: Merkel verliert +++
Rompuy präsentierte drei wesentliche Beschlüsse, welche mit Berlin nie zu machen gewesen wären - hätten sich Italiener und Spanier nicht überraschend auf die totale Blockade verständigt. Zum einen sollen sie sich in Zukunft direkt Geldspritzen aus dem Rettungsfonds ESM holen dürfen. Als noch dramatischer könnte sich die Einigung für die Rettungsfonds EFSF und ESM erweisen. Deren Instrumente können künftig "in flexibler und effizienter Weise" genutzt werden. Will heißen: ohne langwierige Verhandlungen mit der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds über strenge Reformauflagen. Monti konnte seinen Sieg gar nicht genug auskosten. Die Troika werde nie nach Rom kommen, verkündete er. Sein Signal an das Heimatpublikum, vor allem aber an die Finanzmärkte: Wenn nötig, wird Rom schnell Hilfe erhalten.
Bis zu einem gewissen Maße gibt es in der deutschen Delegation sogar Verständnis für die schwierige Lage des Italieners. Auch Merkel sagte, der "Druck auf den Finanzmärkten ist unbestreitbar". Und trotzdem trat sie vehement dem Eindruck entgegen, in Zukunft könnten die Rettungsschirme zum Selbstbedienungsladen werden.
Die Kanzlerin wusste, dass in Berlin ein Sturm der Entrüstung tobte, die Opposition bereits von einer deutschen "180-Grad-Wende" sprach. Also verwiesen ihre Leute unermüdlich auf die Passagen in der Erklärung, die ihre Positionen stützen. Etwa dass Hilfsempfänger auch in Zukunft eine Vereinbarung mit Auflagen unterzeichnen müssen. Doch wie verbindlich diese Bedingungen sind, und wer sie kontrolliert, da bleibt das Dokument schwammig.
Bis zum 9. Juli sollen nun die Finanzminister die Details klären. Und da dürfte sich der deutsch-italienische Konflikt weiter verschärfen. Auf die Frage, wann in der Nacht zum Freitag die Einigung erzielt worden sei, antwortete ein Regierungsbeamter: "Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt schon eine Einigung haben."