Eine darbende Branche setzt auf Varianten (fast) ohne Prozente. Auch Holsten aus Hamburg will mit einer Innovation neue Kunden gewinnen.
Hamburg. Der Weg zur jüngsten Entwicklung der Hamburger Holsten-Brauerei führt in den Keller. Olaf Rauschenbach, 48, steigt eine breite Treppe hinab, bis der Leiter der Innovationsabteilung in einem kühlen, weiß gekachelten Raum landet. Bis zu 30 Meter hohe Gärtanks stehen hier, in denen die Spezialitäten der Brauerei reifen. Ein Geruch aus Bier und Desinfektionsmitteln liegt in der Luft.
+++Brauer alkoholfreier Biere+++
+++Holsten-Mutter setzt weniger um, verdient aber mehr+++
Fünf Tage dauert es in der Regel, bis die zugesetzte Hefe die Mischung aus Hopfen, Gerstenmalz und Wasser in ein normales Bier verwandelt hat. Nur in einem der mächtigen Tanks läuft der Prozess anders ab. Die Hefe in diesem Tank wandelt den enthaltenen Zucker zunächst zwar auch in Alkohol um, doch nach kurzer Zeit stoppt der Vorgang. Heraus kommt ein Bier fast ohne Alkohol, das sich geschmacklich sehr nah am normalen Holsten orientieren soll.
"Unser neues Holsten Alkoholfrei schmeckt etwas süßer als das Original, ist aber sonst durchaus vergleichbar", sagt Rauschenbach. Das war nicht immer so. Bis zum Frühjahr dieses Jahres wurden dem Bier noch mit einer Entalkoholisierungsanlage nachträglich die Prozente entzogen. "Doch der damalige Geschmack war nie so richtig überzeugend", meint der Brauer und Diplomingenieur. Zum Teil habe man das Bier mit anderen Sorten mischen und mit Aromen versetzen müssen.
Mit der veränderten Herstellungsweise hoffen die Hamburger, die zur dänischen Carlsberg-Gruppe gehören, nun auf den Durchbruch im Geschäft mit alkoholfreiem Bier. Der große Aufwand ist durchaus verständlich. Alkoholfreie Biere sind nämlich so etwas wie die letzte Hoffnung für Deutschlands Brauer. Zwar liegt der Marktanteil noch bei bescheidenen 4,4 Prozent. Doch während der gesamte deutsche Bierabsatz zwischen 2008 und 2010 um 2,6 Prozent schrumpfte, konnten die Varianten ohne Alkohol um satte 18 Prozent zulegen. Für dieses Jahr erwartet der Deutsche Brauer-Bund, dass der Marktanteil weiter steigen wird.
"Wir haben es mit einer grundlegenden Veränderung der Trinkgewohnheiten in der Bevölkerung zu tun", sagt der Sprecher des Verbands, Marc-Oliver Huhnholz. "Viele Menschen ernähren sich gesund und verzichten deshalb ganz bewusst auf Alkohol." Zudem gebe es immer weniger Unternehmen, in denen ein Bier während der Arbeitszeit noch erlaubt sei.
Zu dem wachsenden Erfolg der alkoholfreien Varianten tragen laut Huhnholz auch immer bessere technische Verfahren bei. "Die Brauer nähern sich immer mehr dem Geschmack eines normalen Bieres an." Oft suchen sie dabei den Schulterschluss mit Forschern in Universitäten. Holsten etwa arbeitete eng mit der TU Berlin zusammen, um die richtige, sogenannte Maltose-intolerante Hefe zu finden, die so gut wie keinen Alkohol produziert, aber dennoch für einen süffigen Geschmack des Bieres sorgen soll.
Die sensorische Verbesserung hat allerdings auch damit zu tun, dass immer mehr Brauereien eine gewisse Menge an Restalkohol in ihren Getränken zulassen, der dann als Geschmacksträger fungiert. Im Gegensatz zur Meinung vieler Konsumenten darf ein alkoholfreies Bier nämlich bis zu 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten, ohne dass dies gekennzeichnet werden muss. Bei Holsten Alkoholfrei sind es jetzt 0,3 Prozent, vor der Umstellung waren es 0,0. Ein normales Holsten Pilsener kommt auf 4,8 Prozent.
"Der Restalkohol ist aber gesundheitlich unproblematisch, man müsste deutlich mehr als fünf Liter trinken, um irgendeine Wirkung zu spüren", meint Holsten-Experte Rauschenbach. Eine ähnliche Menge Alkohol sei aufgrund des Gärprozesses auch in Fruchtsäften enthalten. Nur trockenen Alkoholikern sei aus psychologischen Gründen alkoholfreies Bier generell nicht zu empfehlen. "Weil sich die Varianten stark ähneln, ist die Versuchung zu groß, nach einem alkoholfreien Bier doch wieder zu einem normalen Pils zu greifen."
Auch die Warsteiner-Brauerei hat ihre bisher völlig alkoholfreie Variante in diesem Frühjahr durch ein Bräu mit etwas Restalkohol ersetzt. "Der Geschmack ist aus unserer Sicht einfach besser", begründet Unternehmenssprecher Stefan Leppin den Schritt. Bei den Kunden komme die Rezeptumstellung extrem gut an. Zuwachsraten von 30 Prozent verzeichnet die familiengeführte Brauerei bei Warsteiner Alkoholfrei seit dem Frühjahr. Mithilfe des neuen Rezepts gelang es sogar, den gesamten Bierabsatz im ersten Halbjahr dieses Jahres leicht zu steigern.
Zu dem Erfolg dürfte allerdings auch die massive Werbekampagne beigetragen haben, die Warsteiner für sein alkoholfreies Pilsener gestartet hat. Für ihre Fernsehspots haben die Sauerländer immerhin den Boxweltmeister Wladimir Klitschko verpflichtet, der zusammen mit seinem Bruder von den "Vitali-sierenden" und isotonischen Eigenschaften des Bieres schwärmen darf. Die gleiche Konzentration von Mineralien oder Vitaminen im Bier und im menschlichen Körper soll für eine möglichst schnelle Aufnahme dieser Stoffe im Organismus sorgen.
Die angeblich gesundheitsfördernde Wirkung gehört zum festen Repertoire der Marketingstrategen, wenn es um die Beschreibung der Vorteile von alkoholfreien Bieren geht. So hat Erdinger sein alkoholfreies Weißbier von Anfang an als Sportgetränk positioniert. Um die positive Wirkung zu beweisen, startete das Unternehmen eine Studie mit der TU München. 277 Probanden wurde vor und nach dem Münchner Marathon Weißbier eingeflößt. Das Ergebnis: In dem Bier enthaltene Polyphenole sollen dazu beitragen, Erkältungen vorzubeugen, das Immunsystem zu unterstützen und Entzündungsreaktionen zu reduzieren.
Der Hamburger Sportmediziner Klaus-Michael Braumann stuft die Studie seiner Münchner Kollegen durchaus als ernst zu nehmend ein. "Es scheint tatsächlich Inhaltsstoffe im Bier zu geben, die das Immunsystem des Menschen unterstützen", sagt der Professor, der an der Universität Hamburg lehrt. Den Begriff "isotonisch" hält Braumann allerdings für eine reine Marketingerfindung. "Es ist vor allem das Wasser, das für eine Verteilung von Nährstoffen im Körper sorgt." Während und nach dem Sport könne man daher auch einfach Mineralwasser trinken, um die Reserven wieder aufzufüllen.
Für Erdinger hat sich die Positionierung als Sportdrink in jedem Fall ausgezahlt. Laut einer Statistik der Fachzeitschrift Brauwelt rangieren die Bayern auf Rang drei der größten Hersteller von alkoholfreiem Bier in Deutschland. "Die Entwicklung ist nach wie vor sehr positiv, und ich bin überzeugt davon, dass wir weiterhin auf einem Wachstumsmarkt und keinem Verdrängungsmarkt agieren", sagt Erdinger-Vertriebschef Josef Westermeier.
Marktführer im Geschäft mit Bier ohne Alkohol ist die zum Oetker-Konzern zählende Radeberger Gruppe, zu der die Marken Clausthaler und Jever Fun gehören. Auf Rang zwei liegt der Konzern Anheuser-Inbev (Beck's). Holsten folgt mit gehörigem Abstand auf dem achten Rang.
Mit einer Marketingkampagne wollen die Hamburger Ende der Jahres nun ebenfalls ihr alkoholfreies Bier als Sportgetränk positionieren. Die ersten Monate nach der Rezeptumstellung seien schon sehr erfolgreich gewesen, sagt Unternehmenssprecher Udo Dewies. Nur eine Zielgruppe können die Hamburger nun nicht mehr beliefern. Religiöse Staaten wie Saudi-Arabien haben wegen des kleinen Restalkohol-Anteils kein Interesse mehr an dem Bier aus der Hansestadt. Strenggläubige Muslime dürfen schließlich gar keinen Alkohol trinken, auch nicht ein ganz kleines bisschen.