Nicole Peters strebt dank Umschulung und Fortbildung zurück ins Berufsleben. Knapp 20 000 Hamburger sind seit mehr als zwei Jahren ohne Job.
Hamburg. "Ich glaub, ich nehme ein Mineralwasser", sagt Nicole Peters zu Beginn des Interviews und blättert schüchtern durch die Speisekarte des kleinen Cafés in St. Georg. Sie schaut ungläubig auf die Preise, schüttelt den Kopf. "Ich gehe so selten Kaffee trinken, da weiß man gar nicht mehr, was das alles so kostet." Müde, aber zufrieden sieht die 40-Jährige aus Wilhelmsburg aus. Den ganzen Tag hat sie am Schreibtisch gesessen, ist den Ausführungen eines Berufsschullehrers gefolgt. Rechnungswesen steht für die nächsten Wochen auf dem Stundenplan und das Erlernen von zwei Buchhaltungsprogrammen. Lange hat die gebürtige Berlinerin darum gekämpft, die Fortbildung absolvieren zu dürfen. Zwei anstrengende Monate liegen vor ihr, aber Peters ist motiviert. "Mit dieser Qualifikation sehe ich eine Chance, ins normale Berufsleben zurückzukehren", betont sie. "Ich möchte den Satz, ,erst die Arbeit, dann das Vergnügen' auch wieder benutzen."
Die Ausgeschlossenheit aus dem Berufsalltag - mit diesem Schicksal müssen derzeit 67 410 Hamburger leben. 19 729 von ihnen sind länger als zwei Jahre ohne Job und gelten damit als langzeitarbeitslos. Deutschlandweit fallen 855 448 Menschen in diese Kategorie. Das sind knapp ein Drittel aller Erwerbslosen. In Hamburg liegt der prozentuale Anteil bei 29,3 Prozent. Damit liegt die Hansestadt bundesweit auf Platz zwei hinter Bayern. Dort sind lediglich 25,7 Prozent aller Arbeitslosen länger als zwei Jahre ohne Job, hinter Hamburg folgt Schleswig-Holstein mit 29,4 Prozent. Schlusslichter sind Nordrhein-Westfalen mit 40,6 und Bremen mit 41,2 Prozent. Eine erfreuliche Statistik für die Arbeitsagentur in Hamburg. "Von einer Krise ist auf dem Hamburger Arbeitsmarkt noch nichts zu spüren", sagt Sprecher Knut Böhrnsen. 7,3 Prozent Hamburger ohne Job zählte die Agentur im Dezember. "Selten waren die Chancen für qualifizierte Arbeitslose besser, schnell wieder einen neuen Arbeitsplatz zu finden."
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Doch was ist mit den Menschen, die keinen Hochschulabschluss haben? Deren Lebenslauf lückenhaft ist oder denen über Jahre hinweg der Weg aus der Arbeitslosigkeit nicht gelungen ist? Weil sie keinen Schulabschluss haben wie rund 21 Prozent der Langzeitarbeitslosen oder keine abgeschlossene Berufsausbildung wie gut 58 Prozent?
Nicole Peters hat da etwas bessere Karten. Nach einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau von 1988 bis 1991 arbeitete die 40-Jährige von 1992 an als Gehilfin im Bau- und Malergewerbe, hielt sich später mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Aber auch sie musste sich immer wieder arbeitssuchend melden. Weil ihr die Chancen auf einen Job in der Hansestadt größer erschienen als in Berlin, zog sie 2005 um.
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In einem Ein-Euro-Job konnte die Einzelhandelskauffrau dann bei einem Kantinenzulieferer Erfahrungen im Büro sammeln - das gefiel ihr. Ihre Chefin ermöglichte ihr daraufhin, bis zum Auslaufen der Maßnahme in der Personalabteilung zu arbeiten. "Spätestens da habe ich gemerkt, dass ich auf meinem Berufsweg mehrere Male falsch abgebogen bin. Aber seitdem weiß ich, dass ich an den Schreibtisch will", sagt die gebürtige Berlinerin. Plötzlich leuchten ihre Augen. "Ich brenne für einen Job im Büro."
Mit ihrer Euphorie und Motivation konnte Nicole Peters ihren Arbeitsvermittler davon überzeugen, ihr eine Umschulung zu genehmigen. Im Alter von 35 Jahren absolvierte sie zwischen 2007 und 2008 bei einem Versicherungsmakler eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Aber auch dort ergaben sich keine Perspektiven. "Vielmehr wurden Mitarbeiter gekündigt, da hatte ich als Umschülerin keine Chance zu bleiben", so die Wilhelmsburgerin. Wieder stand sie auf der Straße - dennoch aber überzeugt, beruflich den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.
Mit dieser Einstellung ist Nicole Peters eine von wenigen Langzeitarbeitslosen. "Selten kommen Menschen gut mit dieser belastenden Situation zurecht", weiß der Psychologe Hendrik Berth von der Universität Dresden, der sich seit Jahren auf das Thema Arbeitslosigkeit spezialisiert hat. "Irgendwann haben die Betroffenen das Gefühl, ihr Leben nicht mehr steuern zu können. Aus Selbstschutz gehen sie bei Bewerbungen bereits vor dem Abschicken davon aus, dass es nichts wird mit dem Job - und das kann nur schiefgehen."
Berths Studien belegen, dass Arbeitslosigkeit körperliche Beschwerden wie chronische Krankheiten, Herzprobleme, Nervosität und Schlafmangel zur Folge haben kann. Auch psychische Probleme, die häufiger als die körperlichen Beschwerden auftreten, können einer Arbeitslosigkeit zugrunde liegen. Angstzustände, Depressionen, Probleme mit familiären Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum können die Folgen sein. Diese Menschen müssen sich zunächst ihrer schwierigen Situation bewusst werden, sagt Berth. Nur so sei es möglich, ein Leben mit einem regelmäßigen Tagesablauf zu führen. Auch ehrenamtliche Tätigkeiten könnten dabei das Gefühl vermitteln, am Ende des Tages etwas geleistet zu haben.
Für alle, die den psychischen Belastungen der Arbeitslosigkeit nicht mehr aus eigener Kraft entrinnen können, gibt es Fallmanager wie Klaus Genter. Sie kümmern sich um Langzeitarbeitslose, die mit tiefer liegenden Problemen zu kämpfen haben. "Wir wollen diese Menschen fördern und unterstützen, dass sie ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestreiten können, fordern dabei aber auch deren Mitwirkung ein", sagt der 51-Jährige, der jahrelang als Arbeitsvermittler gearbeitet hat. "Sie müssen für sich die Entscheidung getroffen haben, was sie wollen - und nicht der Meinung sein, sich unter Wert zu verkaufen."
Ist diese Motivation da, können Klient und Fallmanager gemeinsam überlegen, mit welcher Art von Fortbildung der Weg ins berufliche Leben wieder geebnet werden kann. Um sich erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen, sei es besonders wichtig, die aktuellen Qualifikationsstandards zu erfüllen. "Nur so sind meine Klienten für zukünftige Arbeitgeber interessant", sagt Gerber. Bereits während der Fortbildung müssten sie sich auf freie Stellen bewerben, um mit den frisch erworbenen Kenntnissen sofort auf dem Arbeitsmarkt präsent zu sein.
Diesen Plan verfolgt auch Nicole Peters. Nach einer Umschulung und einer Fortbildung zur Personalsachbearbeiterin drückt sie nun erneut die Schulbank. "Ich bin glücklich darüber, dass mein Vermittler mir diesen Kurs genehmigt hat", sagt die Hartz-IV-Empfängerin. Ihre neuen Kenntnisse sollen ihr dabei helfen, ihre Fähigkeiten von Februar dieses Jahres an in einem Betrieb unter Beweis zu stellen. Das ist ihre Hoffnung. "Es ist frustrierend, jeden Tag zu Hause zu sitzen. Besonders, wenn Freunde von ihrem Alltag erzählen, merke ich, wie sehr mir die echte Arbeit fehlt", sagt sie betrübt. Dann schaut sie auf ihren Rucksack, der prall gefüllt ist mit Ordnern und Unterrichtsmaterialien ihrer Fortbildung, und lächelt. "Aber ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin."