Die Kieler Werft erhält den ersten Neubau-Auftrag seit der Insolvenz. Eine Trendwende ist für die Branche aber noch nicht in Sicht.
Hamburg. Seit Monaten halten sich die rund 280 Mitarbeiter auf der Kieler Lindenau-Werft mit Reparaturaufträgen im wahrsten Sinne des Wortes über Wasser - sofern sie nicht in Kurzarbeit stehen und überhaupt auf der Werft sind. Sie entrosten und streichen Schiffsrümpfe, warten Motoren und technische Installationen auf Frachtern, Tankern, Fähren. Von Juni an kann die Belegschaft endlich wieder ihr Kerngeschäft betreiben. Die Cuxhavener Reederei Glüsing hat einen Doppelhüllentanker für die Küstenfahrt bestellt, der acht bis neun Millionen Euro kosten wird. Seit September 2008 steht die Lindenau-Werft im Insolvenzverfahren - es ist ihr erster Neubauauftrag seither.
"Der Auftrag ist für die Werft enorm wichtig, um Spielraum für weitere Akquisitionen zu gewinnen - und damit wir Gespräche mit möglichen Investoren führen können", sagt der Insolvenzverwalter Jan H. Wilhelm. Seine Stimme am Mobiltelefon klingt weit entfernt. Wilhelm ist im Auto unterwegs irgendwo im Norden Deutschlands. Erfahrene Insolvenzverwalter und Sanierer wie er sind in dieser wirtschaftlich schweren Zeit gefragt wie nie.
Wenn es gut geht, überlebt ein angeschlagenes Unternehmen die Insolvenz mit einem neuen Investor, frischem Kapital und zukunftsweisenden Ideen. Geht es schlecht, sind die Arbeitsplätze endgültig verloren. Bei Wilhelm geht es meistens gut. "Lindenau erschließt sich mit Doppelhüllen-Küstentankern ein sehr interessantes Marktsegment", sagt er. "Die kleineren Schiffseinheiten sind derzeit am Markt viel besser zu platzieren, weil sich deren Transportmengen wirtschaftlich besser handhaben lassen. Generell ist die Auftragslage aber weiterhin sehr schwierig."
Schon in den 1980er-Jahren hatte sich das damalige Familienunternehmen Lindenau auf den Bau technologisch anspruchsvoller Tanker mit doppelter Hülle spezialisiert. Das könnte sich nun als Lebensversicherung erweisen. Nach vielen katastrophalen Havarien vor allem von Rohöltankern setzte sich die Doppelhülle als Sicherheitsstandard weltweit durch. Tanker aller Größenklassen müssen in den kommenden Jahren diesen doppelten Schutz besitzen, der das Auslaufen von Öl oder Ölprodukten nach einer Kollision verhindert. Mehr als 50 Doppelhüllentanker hat Lindenau bislang gebaut, der letzte Neubau der Werft überhaupt war die "Seychelles Paradise" für die Küstenfahrt vor den Seychellen, abgeliefert im Oktober 2009.
Der 51 Meter lange, elf Meter breite Küstentanker für die Reederei Glüsing ist einer jener Schiffstypen, auf die die deutschen Werften für die kommenden Jahre ihre Hoffnungen setzten: technologisch hoch ausgereifte Spezialschiffe, die einzeln oder in kleinen Serien in kurzer Zeit und mit hoher Qualität gebaut werden. In der Mitte des vergangenen Jahrzehnts hatte der Schiffbau weltweit einen enormen Aufschwung erlebt. Getrieben wurde dieser Boom vor allem durch Aufträge für neue Containerschiffe, von denen auch die deutschen Werften besonders profitierten. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise brach das Geschäft schlagartig zusammen. Besonders viele Schiffe - 60 seit Mitte 2008 - wurden bei deutschen Werften storniert, weil die sich gegenüber den Reedereien kaum mit hohen Anzahlungen abgesichert hatten. Der Auftragswert der Branche in Deutschland sank von rund 15,4 Milliarden Euro Ende 2007 auf etwa 9,6 Milliarden Euro Ende 2009, wie aus den Zahlen des Schiffbauverbandes VSM hervorgeht. Rund 100 Schiffe stehen derzeit noch in den Orderbüchern der deutschen Schiffbauunternehmen, 2007 waren es 239. Die Zahl der neuen Aufträge ging in den vergangenen Jahren rapide zurück. "Am Markt für Spezialschiffe tut sich zumindest überhaupt etwas", sagt VSM-Hauptgeschäftsführer Werner Lundt. "Aber auch dieser Markt ist hart umkämpft."
Neue Aufträge für den deutschen Schiffbau wirken derzeit fast so spektakulär wie die erste Mondlandung. Die meisten Werften an Nord- und Ostsee sind wirtschaftlich angeschlagen, sechs gingen seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 insolvent. Das Unternehmen Nordic Yards mit Werften in Wismar und in Rostock hofft darauf, dass eine Absichtserklärung eines russischen Bergbauunternehmens für einen 100 Millionen Euro teuren Spezialtanker realisiert werden kann. Für Nordic Yards ist der Auftrag überlebenswichtig, andere Orders besitzt das Unternehmen derzeit nicht mehr. Doch die Finanzierung für den Tanker ist noch nicht gesichert.
Konkurrent Hegemann, immerhin mit Werften in Stralsund und Wolgast, gewann kürzlich zwei Großaufträge für Ostseefähren und kann damit die Auslastung über das Jahr 2012 hinaus sicherstellen. Die Meyer Werft in Papenburg wiederum, Deutschlands derzeit stärkstes Schiffbauunternehmen, unterlag im Wettbewerb um zwei neue Kreuzfahrtschiffe für Princess Cruises im Februar dem italienischen Konkurrenten Fincantieri.
Die Schiffbaubranche leidet nicht nur an den Folgen der Weltwirtschaftskrise, sondern auch unter der Übermacht der Werften in Südkorea und in China. Der Verdrängungswettbewerb schreitet voran. Speziell die koreanischen Großwerften wie Hyundai, Samsung oder Daewoo können heutzutage fast jedes Schiff in jeder Qualität billiger bauen als die Europäer. Auch in die Fertigung von Kreuzfahrtschiffen, bislang eine europäische Domäne, wollen die Koreaner demnächst einsteigen.
So ist der Tankerauftrag für Lindenau zumindest ein kleines Zeichen der Hoffnung. "Wir haben in Europa und speziell in Deutschland lange gesucht, bevor wir uns mit unseren sehr genauen und strengen Vorgaben für Lindenau entschieden haben", sagt der Cuxhavener Reeder Arne Glüsing. "Lindenau arbeitet äußerst akribisch, der gute Ruf eilt dem Unternehmen voraus." Eine asiatische Werft sei für das Familienunternehmen, das eine kleine Flotte von Küstentankern betreibt, keine Alternative, sagt Glüsing: "Als Mittelständler wäre es für uns gar nicht machbar, auf einer asiatischen Werft eine eigene Bauaufsicht für einen solchen Auftrag zu unterhalten." Auch deshalb wird nun an der Kieler Förde gebaut.
Den Insolvenzverwalter Jan H. Wilhelm freut das. Seine Mission ist erst dann erfolgreich, wenn das Unternehmen die Insolvenz überlebt. "Gespräche mit möglichen Investoren", sagt Wilhelm am Handy irgendwo in Norddeutschland, "fallen mit dem neuen Auftrag im Hintergrund natürlich erheblich leichter."