Im Abendblatt-Interview fordert Gewerkschaftschef Franz-Josef Möllenberg ein Gesetz für auskömmliche Löhne - das kurbele die Wirtschaft an.
Hamburg. Die Wirklichkeit stellt manchmal selbst schlimmste Befürchtungen in den Schatten. Während in manchen Banken schon wieder Millionengehälter gezahlt werden, müssen sich am unteren Ende des Arbeitsmarktes offenbar immer mehr Beschäftigte mit Minimallöhnen von wenigen Euro abfinden. "Stundensätze von drei bis fünf Euro im Bäckerhandwerk, der Hotellerie oder Gastronomie sind in Deutschland keine Seltenheit", berichtet der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Franz-Josef Möllenberg (56), erste Ergebnisse aus dem "Dumpinglohn-Melder", den er mit der Gewerkschaft Ver.di startete (das Abendblatt berichtete).
Jeder dritte Arbeitnehmer falle bundesweit nicht mehr unter den Schutz eines Tarifvertrags. Im Gastgewerbe sei es besonders schwierig, Tarifverträge durchzusetzen, da gerade in kleinen Betrieben nur wenige Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert sind. Bundesweit arbeiten 840 000 Mitarbeiter in 260 000 Betrieben des Gastgewerbes.
Innerhalb einer Woche hätten rund 1000 Beschäftigte ihre teils unwürdigen Arbeitsverhältnisse den Gewerkschaften geschildert. "Wir sind von der großen Resonanz überrascht. Viele Schicksale sind erschreckend. Oft müssen sich gerade Alleinerziehende mit Armutslöhnen abfinden - und darunter leiden auch die Kinder. Das ist ein Skandal", kritisiert Möllenberg. Schon heute stocke der Staat jedes Jahr die Einkommen von 1,2 Millionen Arbeitnehmern - davon 32 000 in Hamburg - um vier Milliarden Euro im Rahmen des Arbeitslosengeldes (ALG 2) auf, damit ihr Geld überhaupt zum Leben reiche.
"Wie ein drittes Konjunkturpaket"
Gegen den Missstand schlechter Bezahlung hilft aus Sicht von Möllenberg nur ein Weg: "Die Bundesregierung muss schnellstmöglich einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, um allen Arbeitnehmern eine menschenwürdige Entlohnung zu sichern." Dieser Schritt sei auch ein wichtiges Mittel im Kampf gegen die aktuelle Wirtschaftskrise: "Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns würde wie ein drittes Konjunkturpaket wirken. Denn die Menschen würden ihr verdientes Geld komplett in den Konsum stecken, da von Mindestlohngehältern kaum Geld übrig bleibt, das auf die hohe Kante gelegt werden könnte", sagt Möllenberg dem Abendblatt. "Gleichzeitig würden dadurch 220 000 neue Vollzeitarbeitsplätze entstehen."
Seine Forderung will der Gewerkschafter heute auch bei einem Besuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vortragen. Der Gewerkschaftschef plädiert für die Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohnes zunächst auf 7,50 Euro. Die Summe entspräche bei einer 40-Stunden-Woche 1260 Euro brutto im Monat. "Dies kann aber nur ein erster Schritt sein. Angemessen wären mindestens neun Euro", unterstreicht Möllenberg.
Deutschland zählt neben Dänemark, Schweden, Finnland, Österreich, Italien und Zypern zu den einzigen der 27 EU-Länder, die noch keinen Mindestlohn eingeführt haben. Selbst das reiche Luxemburg garantiert seinen Bürgern einen Mindeststundensatz von 9,73 Euro.
Der Mindestlohn sei auch mit Blick auf die bevorstehende europäische Öffnung des Arbeitsmarktes im Mai 2011 wichtig, so Möllenberg: "Wir müssen frühzeitig verhindern, dass es zu einem europäischen Unterbietungswettbewerb und Lohndumping kommt." Die Argumente der Arbeitgeber, wonach Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten, bezeichnet Möllenberg als "Quatsch": "Kein Friseur, Bäcker, Hotel oder Gaststätte verlegt seinen Standort ins Ausland, um dort die günstigeren Löhne zu nutzen."
Sorge um sozialen Frieden
Skeptisch sieht Möllenberg in seinen Branchen auch die aggressive Preispolitik im Lebensmittelhandel: "Durch die Preissenkungen gerät vor allem die mittelständische Ernährungsindustrie unter Druck. Vor allem bei Mineralwasserabfüllern und Milchproduzenten dürften zahlreiche Anbieter vom Markt verschwinden."
Trotz vieler optimistischer Prognosen sieht Möllenberg noch keinen schnellen nachhaltigen Aufschwung für Deutschland: "Ich befürchte, dass nach der Bundestagswahl viele Kurzarbeiter in die Arbeitslosigkeit geschickt werden." Bundesweit seien im Bereich der NGG 25 Hotels, insbesondere im Raum Frankfurt, sowie zahlreiche Caterer von Kurzarbeit betroffen.
Damit die Wirtschaft sich weiter erholen könne und der soziale Frieden in Deutschland gewahrt bleibe, fordert Möllenberg auch eine weitere Verlängerung der Förderung von Kurzarbeit. "Wir müssen alles versuchen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Wenn die Arbeitslosigkeit auf fünf Millionen steigt, könnte es in Deutschland deutlich unruhiger werden - und das kann sich niemand wünschen."