Autoindustrie, Maschinenbau und Bau stark betroffen. Institution erwartet 2009 ein Defizit von elf Milliarden Euro.

Hamburg. Abendblatt:

Herr Weise, welche Assoziationen verbinden Sie mit Arbeitslosigkeit?

Frank-Jürgen Weise:

Arbeitslosigkeit ist ein Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt und Teil der Marktwirtschaft. In Deutschland geraten arbeitslose Menschen aber leider manchmal unter Verdacht, nicht arbeiten zu wollen. Dabei bemühen sich die meisten sehr intensiv um Arbeit und nutzen Zeiten der Arbeitslosigkeit auch für ihre berufliche Qualifizierung.



Abendblatt:

Wie viel Arbeitslosigkeit kann sich Deutschland leisten, bevor es zu Problemen in der Gesellschaft kommt?

Weise:

Entscheidend ist, wie lange jemand arbeitslos ist. Arbeitslosigkeit verliert ihren Schrecken, wenn sie kurz ist. Dann ist sie für die Betroffenen verkraftbar.



Abendblatt:

Was ist für Sie ein kurzer Zeitraum?

Weise:

Eine individuelle Arbeitslosigkeit über drei Monate ist weder für die Menschen, noch für die Wirtschaft und die Gesellschaft gut. Schließlich können Menschen ihre Fähigkeiten nicht einbringen. Bei 40 Millionen Erwerbstätigen wären 2,5 Millionen Arbeitslose ein vertretbarer Ausgleich am Arbeitsmarkt, wenn der Einzelne nicht länger als drei Monate ohne Beschäftigung ist.



Abendblatt:

Welche Arbeitslosenzahlen erwarten Sie für 2009, wenn sich die fehlenden Aufträge bei den Unternehmen auswirken?

Weise:

Wir haben derzeit eine Krise, die in ihrer Dimension, ihrer Geschwindigkeit und der Tiefe der Rezession einmalig ist für die Bundesrepublik. Unser Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung hat drei mögliche Szenarien entwickelt. Ich rechne derzeit mit dem mittleren Szenario und durchschnittlich 3,6 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2009. Nur im schlechtesten Szenario würde die Zahl in einigen Monaten über die vier Millionen hinausgehen.



Abendblatt:

Wie viel wird die Bundesagentur insgesamt ausgeben müssen?

Weise:

Wir rechnen mit Gesamtausgaben von 45 Milliarden Euro und einem operativen Defizit von rund elf Milliarden Euro für 2009. Darin sind Arbeitslosengeld, die Mittel für Kurzarbeit, Rehabilitation und allen anderen Bereiche eingeschlossen.



Abendblatt:

Wie wird das finanziert?

Weise:

Als einzige Sozialversicherung in Europa haben wir in guten Zeiten vorgesorgt und Rücklagen von 17 Milliarden Euro gebildet. Sie werden noch bis ins Jahr 2010 hinein reichen. Das haben wir geschafft, obwohl der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung seit 2005 von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent gesunken ist. Das bedeutet, dass Firmen und die Beschäftigten heute 30 Milliarden Euro pro Jahr weniger für die Arbeitslosenversicherung zahlen als vor vier Jahren.



Abendblatt:

Muss der Satz jetzt wieder steigen?

Weise:

Die Politik muss entscheiden, wie ein Defizit bei der Bundesagentur aufgefangen werden kann, wenn die Reserven verbraucht sind. Eine Erhöhung des Beitragssatzes in der Krise kann ich nicht empfehlen. Aber: Von alleine stopft sich das Loch nicht.



Abendblatt:

In welchen Branchen gibt es in Deutschland derzeit die größten Beschäftigungseinbrüche?

Weise:

In der Autoindustrie und bei ihren Zulieferern, beim Maschinenbau und beim Baugewerbe. Aber auch die Logistikfirmen leiden, wenn immer weniger Ladung transportiert wird.



Abendblatt:

Inwiefern helfen die Konjunkturprogramme der Bundesregierung?

Weise:

Sie dämpfen die Arbeitslosigkeit. In welchem Maß genau, wird man erst später beurteilen können.



Abendblatt:

Vor allem die Kurzarbeit wird derzeit als Mittel propagiert, um Entlassungen zu vermeiden. Muss nicht befürchtet werden, dass sie später doch in Arbeitslosigkeit mündet?

Weise:

Über dieses Risiko entscheiden die Unternehmer. Kurzarbeit ist für die Firma zunächst teurer als eine Entlassung. Ein Unternehmer wird sie also nur beantragen, wenn er davon ausgeht, dass sich die Situation später wieder bessert.



Abendblatt:

Wie kontrollieren die Arbeitsagenturen diese Perspektiven?

Weise:

Der Unternehmer muss belegen, dass der Nachfrageeinbruch nicht mit der Qualität seines Produktes zusammenhängt, sondern wirtschaftliche Ursachen hat und nur vorübergehend ist. Unsere Agenturen vor Ort können das gut einschätzen, auch wenn Mitnahmeeffekte in Einzelfällen nicht völlig auszuschließen sind.



Abendblatt:

Die Bundesagentur übernimmt jetzt alle Sozialkosten, wenn die Betroffenen während der Kurzarbeit weitergebildet werden. Wie groß ist das Interesse an solchen Maßnahmen?

Weise:

Das Instrument ist noch zu jung, um den Erfolg beurteilen zu können. Aber unser Angebot zur Weiterbildung gilt. Für große Firmen ist die Weiterbildung sicher besser zu organisieren. Kleineren Betrieben empfehlen wir, sich zusammenzutun. So könnte ein Bildungsträger für mehrere Firmen gleichzeitig aktiv werden.



Abendblatt:

Wie viel Geld steht für die Qualifikation bereit?

Weise:

Für Kurzarbeit und Qualifizierung 2,1 Milliarden Euro.



Abendblatt:

Wie wird sich die Lage in Hamburg im Vergleich zum Bundesschnitt entwickeln?

Weise:

Hamburg hatte bisher eine hervorragende Stellung beim Aufbau neuer Beschäftigung. Jetzt besteht die Gefahr, dass sich die schwache Konjunktur im Hafen, bei Speditionen und Transportversicherungen auswirkt. Hamburg wird im zweiten Halbjahr einen weiteren Rückgang der Konjunktur erleben. Im Februar lag die Arbeitslosigkeit im Bund mit 8,5 Prozent leicht unter der in Hamburg mit 8,7 Prozent.



Abendblatt:

Nach Ihrer aktiven Zeit bei der Bundeswehr waren Sie Kompaniechef bei den Fallschirmjägern. Inzwischen sind Sie Oberst der Reserve. Wenn Sie eine Parole an die Unternehmen ausgeben könnten...

Weise:

... es ist derzeit schwierig und wird noch schwieriger. Die Unternehmen sollen möglichst nicht entlassen und für ihre Zukunft investieren. Meine Parole lautet: durchhalten und optimistisch bleiben.