Der Staat ist nicht machtlos, meint der Chefvolkswirt der Allianz-Gruppe und der Dresdner Bank. Mit dem Abendblatt sprach Michael Heise über den Sinn von Konjunkturpaketen, die Wirtschaftskompetenz Barack Obamas und die Gefahr eines Systemkollapses.

Hamburg. Abendblatt:

Die deutsche Wirtschaft ist in die Rezession. Wann ist der Tiefpunkt erreicht?

Michael Heise:

Vieles hängt von der Finanzmarktkrise ab, deren Entwicklung schwerer zu prognostizieren ist. Meine Annahme ist, dass die Krise im Finanzsektor im Laufe dieses Jahres an Intensität verliert. Ich denke, diese Annahme ist plausibel, denn die Gegenmaßnahmen der Regierungen rund um die Welt beginnen zu wirken. Es wird sich zeigen: Der Staat ist nicht machtlos.



Abendblatt:

Wie stark schrumpft die deutsche Wirtschaft 2009?

Heise:

Ich erwarte ein Minus beim Bruttoinlandsprodukt von 1,3 Prozent.



Abendblatt:

Worauf gründen Sie Ihre vergleichsweise optimistische Prognose?

Heise:

Ich sehe drei Faktoren, die für eine baldige Erholung sprechen. Das sind zunächst die niedrigen Zinsen. Sie entlasten die Unternehmen vor allem bei Verträgen, die an den Geldmarkt gekoppelt sind. Auch die Häuslebauer, die ihre Hypothek umschulden, freuen sich über erhebliche Zinsersparnisse. Hinzu kommen die Konjunkturpakete rund um die Welt. Wir erleben hier die stärkste staatliche Nachfragestimulierung seit Jahrzehnten. Der dritte und wichtigste Faktor ist der Rückgang der Energie- und Rohstoffpreise, der selbst wie ein riesiges Konjunkturpaket wirkt. Allein die Verringerung des Ölpreises entspricht von ihrer Wirkung her einer Absenkung der Mehrwertsteuer um drei bis vier Prozentpunkte. Das zeigt sich bereits in den Konsumausgaben.



Abendblatt:

Die staatliche Hilfen für verschiedene Branchen werden von vielen Menschen aber auch sehr kritisch gesehen. Wie beurteilen Sie dies?

Heise:

Die Lage war hochgefährlich für die wirtschaftliche Stabilität und sie ist es noch. Das haben die Regierungen erkannt und sie haben konsequent gehandelt. Das war absolut erforderlich, sonst hätten wir einen Systemkollaps bekommen.



Abendblatt:

Wie wirkt sich die Krise auf den Arbeitsmarkt aus?

Heise:

Man muss damit rechnen, dass wir relativ starke Beschäftigungsrückgänge sehen, vor allem bei Leihkräften. Über diese haben sich die Unternehmen eine hohe Flexibilität verschafft. Ich erwarte aber, dass wir auch eine vergleichsweise schnelle Gesundung der Unternehmen erleben werden. Denn viele Firmen werden - wie auch schon in zurückliegenden Jahren - mit ihrer Belegschaft Wege finden, die Beschäftigung zu halten und trotzdem die Personalkosten zu senken.



Abendblatt:

Welche Folgen wird der kräftige Anstieg der Staatsschulden wegen der Konjunkturpakete haben?

Heise:

Wir werden einen Preis dafür zu zahlen haben, auch in Form von geringerem Wachstum in den kommenden Jahren. Die Staatsschuld wird nicht so leicht wieder abzutragen sein. Die Regierungen werden mittelfristig alle Staatsausgaben wieder auf den Prüfstand stellen müssen, auch Investitionen und Personalkosten. Man wird über Steuererhöhungen diskutieren, aber sie sind keine gute Lösung, weil sie die Wirtschaft bremsen. Am Ende sollte versucht werden, vor allem Wachstumspolitik zu betreiben, indem etwa die Bedingungen für Unternehmensinvestitionen oder Beschäftigung erleichtert werden. Dies alles wird nicht gerade populär sein.



Abendblatt:

Pessimisten befürchten, dass auf den Anstieg der Staatsverschuldung eine deutlich höhere Inflation folgt.

Heise:

Hohe Inflationsraten sehe ich für die nächsten zwei oder drei Jahre nicht. Dazu wird das Wirtschaftswachstum zu schwach und der Lohnkostendruck zu hoch sein. Zunächst einmal steht uns eine Diskussion über eine Deflationsspirale bevor. Mittelfristig dürfte die Inflationsrate wieder ein normales Maß von rund zwei Prozent erreichen. Aber selbst dafür müsste die Wirtschaft wieder anspringen.



Abendblatt:

Wird in den USA die Euphorie über den neuen Präsidenten schnell einer Ernüchterung weichen, weil Barack Obama auch unpopuläre Maßnahmen beschließen muss?

Heise:

Nein, ich glaube nicht, dass diese Euphorie so schnell verfliegt. Natürlich wird auch Obama die Wirtschaftskrise nicht von heute auf morgen überwinden können. Aber die Krise bietet auch große politische Chancen. So ist die Welt durch die Krise ein bisschen enger zusammengerückt. Das wird Obama nutzen. Er wird sich internationalen Institutionen wie den G-20 nicht wie sein Vorgänger entgegenstellen, wenn sie zum Beispiel eine verbesserte Aufsicht der Finanzmärkte fordern. Und mit dem Konjunkturpaket geht er schon viele innenpolitische Ziele an.



Abendblatt:

Was erwarten Sie für den Aktienmarkt?

Heise:

Die Chance, dass wir bald in einen Aufwärtskanal kommen, ist groß. Zwar muss man damit rechnen, dass in den nächsten Monaten noch schlechte Nachrichten kommen, die den Markt durcheinander wirbeln. Wenn aber beispielsweise der DAX deutlich unter 4000 Punkte sinken sollte, wäre die Bewertung der Aktien sehr niedrig. Dies sollte für eine gute Absicherung nach unten sorgen. Wer nicht den Ehrgeiz hat, genau den Tiefpunkt zu treffen, kann nun daran denken, sein Aktienportfolio allmählich wieder aufzufüllen. Eines sollte man aber bedenken: Es wird auch eine Konsequenz der Krise sein, dass Unternehmen die enormen Renditeansprüche der vergangenen Jahre nicht mehr erfüllen können.