Schwedens Richtungswechsel heizt Debatte auch hierzulande an: Die Befürworter der Atomkraft in Deutschland bekommen Auftrieb. Eine Renaissance erlebt die Technologie aber nicht.

Hamburg. Die Entscheidung aus Schweden kam genau zur richtigen Zeit. Am Mittwoch und am Donnerstag trafen sich in Berlin die Experten der Energiewirtschaft zur diesjährigen Wintertagung des Deutschen Atomforums. Und am Donnerstag gab die schwedische Regierung bekannt, dass sie den Ausstiegsbeschluss des Jahres 1980 revidieren werde. Künftig gilt also auch in Schweden wieder: freie Fahrt für die Atomkraft.

Für Walter Hohlefelder war das eine Steilvorlage. Der Präsident des Deutschen Atomforums forderte sogleich das Ende des "deutschen Sonderweges" in Fragen der kommerziellen Kernspaltung. Auch in Deutschland müsse der politisch vereinbarte Ausstieg aus der Atomkraft zurückgenommen werden. Spätestens nach der Bundestagswahl werden - so hofft die Atomlobby - Union und FDP in einer Koalitionsregierung den Ausstiegsbeschluss des Jahres 2000 kippen. "Ob Kernenergie als Brückentechnologie in eine neue Energiezukunft oder als Zukunftsoption unter mehreren zu sehen ist, müssen wir heute noch nicht entscheiden", sagte Hohlefelder. Bayerns Umweltminister Markus Söder von der CSU, Gastredner beim Atomforum, leistete Hohlefelder Schützenhilfe: "Wir wollen, dass der Beschluss auszusteigen, auf Eis gelegt wird."

Die Befürworter der Atomkraft in Deutschland haben Auftrieb wie seit Jahrzehnten nicht. Von "Zukunftsoptionen" war im Zusammenhang mit Kernkraftwerken in diesem Land längst keine Rede mehr.

Im Vorfeld der Bundestagswahl im September aber sammeln Verfechter der Technologie fleißig Argumente: die wachsende Abhängigkeit von russischem Erdgas und die ewigen Querelen um dessen Transit durch die Ukraine, die wachsende Bedrohung durch den Klimawandel und schließlich die Tatsache, dass sich mittlerweile alle großen und wirtschaftlich wichtigen europäischen Staaten klar die Option für eine langfristige Nutzung der Atomkraft offenhalten. Seit dieser Woche ist auch Schweden zurück im Club.

Der Kurswechsel der Skandinavier hat für die politische Debatte um die Atomkraft in Deutschland und in Europa eine enorme Signalwirkung, dabei ist faktisch überhaupt nichts passiert. Von einer Renaissance kann auch nach dem Beschluss der schwedischen Regierung keine Rede sein. Weltweit verliert die Atomkraft seit Jahren Marktanteile. Der Grund dafür ist, dass deutlich mehr Kohle- und Gaskraftwerke zur Stromerzeugung gebaut werden. Sie sind billiger und schneller zu errichten. Vor allem China setzt - neben der Atomkraft - besonders auf Kohle, um seine in den vergangenen Jahren stark gewachsene Wirtschaft mit Energie zu versorgen. Das Land besitzt die drittgrößten Kohlereserven der Welt und trägt mit der Verbrennung dieser zumeist minderwertigen Kohle in veralteten Kraftwerken massiv zur Verschärfung des Klimawandels statt.

Das stärkste Argument der Atomkraft-Befürworter ist, dass die Anlagen nahezu kein Treibhausgas Kohlendioxid ausstoßen. Wollte man den Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung aber weltweit deutlich steigern, müssten dafür extreme Anstrengungen unternommen werden. "Wenn wir weitermachen wie bisher, wird der weltweite Anteil von Atomenergie von 14 auf zehn Prozent sinken", sagte Fatih Birol, Chefökonom der Internationalen Energieagentur, bei der Tagung des Deutschen Atomforums. "Um aber die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, muss der Anteil bei 20 Prozent liegen. Um das zu erreichen, müssen wir bis 2020 jedes Jahr 20 neue Atomkraftwerke bauen."

Schaut man auf die vergangenen zwei Jahrzehnte zum Beispiel in Europa und in den USA zurück, mutet dieses Ziel utopisch an. In den USA wurde seit dem Reaktorunfall im Atomkraftwerk Harrisburg im Jahr 1979 kein neuer Reaktor mehr gebaut. Und in Finnland wird seit einiger Zeit Europas erstes neues Atomkraftwerk seit Ende der 80er Jahre hochgezogen. In den vergangenen Jahren bestand keine Notwendigkeit, alte Atomkraftwerke durch neue zu ersetzen. Andererseits holte die Atomkraft auch keine Marktanteile hinzu. Politik und Energiewirtschaft in verschiedenen Ländern saßen das hoch emotionale Thema lieber aus.

Die ökologischen Argumente dominieren stets die Debatte um die Zukunft der Atomkraft, vor allem die Furcht vor einem neuen Reaktorunglück und die bislang fehlende Perspektive für eine Endlagerung des hochradioaktiven Atommülls. Weltweit gibt es bislang keinen Standort für ein Endlager. Aber auch wirtschaftliche Argumente haben ein stärkeres Wachstum der Branche verhindert. Die Installation eines Kilowatts Leistung aus Atomkraft kostet etwa 3500 bis 5000 Euro, drei- bis fünfmal so viel wie bei einem Gas- oder Kohlekraftwerk. Zwar fallen bei einem Atomkraftwerk später die Brennstoffkosten für das Uran erheblich weniger ins Gewicht als andernorts die Kosten für Kohle oder Gas, aber die Anfangskosten sind hoch. "Ohne staatliche Subventionen ist noch kein Atomkraftwerk gebaut worden", sagt der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin.

Vor allem in Schwellenländern mit stark wachsenden Volkswirtschaften wie China wird die Nutzung der Atomkraft politisch getrieben und unterstützt. Wettbewerb am Energiemarkt gibt es dort meist nicht, anders als in Europa oder in den USA. Zwar ärgern sich die meisten Stromkunden hierzulande über mangelnden Wettbewerb und stetig steigende Preise. Aus Sicht der Energiekonzerne aber steht die Atomkraft in Systemkonkurrenz nicht nur mit großen Kohle- und Gaskraftwerken, sondern auch mit den rasch wachsenden erneuerbaren Energien. Hier verläuft inzwischen die Frontlinie der politischen Debatte. Eine Verlängerung der Reaktor-Laufzeiten in Deutschland brächte den Versorgungskonzernen den dringend nötigen Spielraum für den Strukturwandel hin zu mehr erneuerbaren Energiequellen und zu weniger klimaschädlichen Kohlekraftwerken, meint etwa Fritz Vahrenholt, der frühere Hamburger Umweltsenator und heutige Manager beim Energiekonzern RWE. Rainer Baake von der Deutschen Umwelthilfe in Berlin glaubt das nicht: "Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird dies eine massive Bremse für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland sein."