Tausende Forscher haben sich zehn Jahre lang auf die Suche begeben. Ein Ergebnis: Das Leben in den Ozeanen ist vielfältiger als bisher angenommen. Ein anderes: Was wirklich alles im Meerwasser lebt, werden wir wohl nie gänzlich erfassen können.
London. Hummer, Quallen, Haie: Tausende zuvor unbekannte Lebensformen haben Forscher bei einer der größten wissenschaftlichen Gemeinschaftsaktionen überhaupt in den Weltmeeren aufgespürt. Nach zehn Jahren Arbeit wurde am Montag in London die von weltweit 2700 Wissenschaftlern aus 80 Nationen zusammengetragene „Volkszählung der Meere“ vorgestellt. Mehr als 1200 neue Arten von Meerestieren konnten ausführlich beschrieben werden. Mehr als 5000 weitere wurden entdeckt, aber noch nicht abschließend beschrieben.
Herausgekommen bei den 540 Einzelexpeditionen sind unter anderem drei Bücher über den Zustand der Weltmeere. Die Wissenschaftler gehen nun davon aus, dass in den Weltmeeren insgesamt eine Million höhere Lebensformen zu Hause sind - erst 250 000 sind wissenschaftlich vollständig beschrieben. Dazu kommen noch bis zu eine Milliarde Mikrobenarten. Allein in einem Liter Meerwasser befinden sich 38 000 Mikroben, in einem Gramm Meersand bis zu 9000. Sogar in weniger belebten Regionen des Ozeans, etwa in der baltischen See oder der Region vor Nordost-Amerika, kommen bis zu 4000 verschiedene Tierarten vor.
Die Wissenschaftler haben das gesamte Leben im „Planeten Ozean“ untersucht - von der Arktis bis zu den Tropen. Ein Fünftel aller Tiere in den Meeren sind Krustentiere wie Krebse oder Hummer, 17 Prozent sind Weichtiere wie etwa Tintenfische. Mit zwölf Prozent liegen die Fische zahlenmäßig nur wenig vor den Einzellern und den Algen mit jeweils zehn Prozent.
Ein weiteres Ergebnis der gewaltigen Analyse ist, dass viele Arten in mehr Regionen vorkommen als bisher gedacht. Dass Meeressäuger wie etwa Wale ihr Leben lang kreuz und quer durch die Welt wandern, war vorher bekannt. Dass aber etwa der bedrohlich dreinschauende Viperfisch in 25 Prozent aller Ozeane vorkommt, ist neu. Die Forscher nannten ihn den „Otto Normalverbraucher der Weltmeere“. Wie die Tiere es schaffen, unter den verschiedensten Lebensbedingungen zurecht zu kommen, soll nun untersucht werden.
„Der Zensus ist angetreten, um eine Basis der Vielfalt, der Verbreitung und des Reichtums an Arten zu schaffen“, sagte der Mitinitiator der Volkszählung, Jesse Ausubel. „Tatsächlich hat der Zensus des maritimen Lebens einen sich verändernden Ozean dokumentiert, dessen Vielfalt größer ist, der eine größere Vernetzung unter den Meeren zeigt, der mehr vom Menschen beeinflusst ist und der andererseits noch unentdeckter ist, als wir bisher angenommen haben.“ Weltweit wurden in die Untersuchungen 650 Millionen US-Dollar investiert. Die Stiftung des ehemaligen General-Motors-Chefs Alfred P. Sloan steuerte 75 Millionen US-Dollar bei.
Im Mittelmeer sind den Untersuchungen nach nur noch drei Prozent der Lebewesen Fische. Dafür sind dort am meisten „Gastarbeiter der Tiefsee“ anzutreffen. Fische und Algen sind meist durch den Suez-Kanal aus dem Roten Meer eingewandert. In allen Meeren sind Überfischung, Verschmutzung und steigende Wassertemperaturen die größten Bedrohungen für die Artenvielfalt - mit regional jeweils unterschiedlicher Bedeutung.
Myriam Sibuet, Vizepräsidentin des wissenschaftlichen Steuerungskomitees der Untersuchung, sagte: „Der Zensus hat die bekannte Welt größer gemacht. Überall, wo wir hingeschaut haben, sind wir vom Leben in Erstaunen versetzt worden.“ Als einen der großen Erfolge der Aktion werten die Wissenschaftler, dass die erhobenen Daten nun strukturiert in global zugänglichen Datenbasen eingespeist und bearbeitet werden können.
„Vor dem Zensus hatten wir nicht einmal eine simple Liste mit den bekannten Arten des maritimen Lebens. Die Daten waren über die Welt verstreut, der Zugang begrenzt“, sagte Patricia Miloslavich, Wissenschaftlerin aus Venezuela. „Wenn wir uns die Erde als Unternehmen vorstellen, mit der Menschheit als Vorstandschef, dann müssen wir wissen, wer die Angestellten sind.“
Ein wenig mussten die Wissenschaftler auch kapitulieren. „Am Ende des Zensus wissen wir, dass der größte Teil des Ozeans immer unentdeckt bleiben wird“, sagte die Wissenschaftlerin Nancy Knowlton, die sich für die Studie mit Korallenriffen beschäftigt hat. „Der Ozean ist einfach zu groß, nach zehn Jahren harter Arbeit haben wir nur einen Schnappschuss dessen, was die See enthält.“