Sabine H.: In der Schule war sie ein As, mit 21 Jahren dreifache Mutter. Doch was dann geschah, macht nicht nur die Menschen in ihrem kleinen Heimatort rat- und fassungslos. Eine Spurensuche.
Brieskow-Finkenheerd. "Mir haben die Knie geschlottert und die Hände gezittert. Und ich bin nun wahrlich kein gefühlsbetonter Mensch." Ralf Theuer (49) saugt an seiner Zigarette und streicht sich die Haare aus dem Gesicht, bevor er weiterredet. Redet über den Fall und jenen Moment, in dem er, der Bürgermeister von Brieskow-Finkenheerd, erfuhr, daß das Grauen einen Platz in seiner 2700-Seelen-Gemeinde hat. In einer unverputzten, heruntergekommenen Doppelgarage mitten in dem beschaulichen Ort im Landkreis Oder-Spree. "Mein größtes Problem bisher war die Schließung der Schule. Und jetzt das!"
"Das" steht für den wohl schlimmsten Fall von Säuglingstötung bisher in der europäischen Kriminalgeschichte. Neun Babys hat die 39 Jahre alte Sabine H. aus Brandenburg in den Jahren 1988 bis 1999 nach dem bisherigen Ermittlungsstand fast ausschließlich in Frankfurt/Oder zur Welt gebracht und kurz darauf getötet. Leichenspürhunde fanden Überreste der Neugeborenen in Blumentöpfen. Auch gestern suchte die Kripo an verschiedenen Orten noch nach möglichen weiteren Opfern.
Bürgermeister Theuer starrt aus dem Fenster seiner "Clubgaststätte", dem Vereinsheim vom SV Turbine. "Niemand von denen, die Sabine kannten, kann sich das überhaupt vorstellen", meint der PDS-Politiker leise. Über den Akazien, vielleicht 100 Meter entfernt, leuchtet das neugedeckte, rote Dach des Elternhauses von Sabine H. Rotweiße Absperrbänder der Polizei flattern auf dem Bürgersteig im Wind, ein paar Blumen liegen vor dem Jägerzaun. In der linken Hälfte des Doppelhauses mit dem bunten Sommergarten wohnt Sabines Mutter, rechts ihre Schwester Jutta mit Lebensgefährten.
Um 13.41 Uhr am vergangenen Sonntag hat ein Neffe die Polizei alarmiert, nachdem er im Sand in einem Aquarium kleine Knochen gefunden hatte. Er räumte die Garage auf, in der Sabine H. nach und nach Töpfe und Gefäße untergestellt hatte, für die sie in ihrer Wohnung im nahen Frankfurt/Oder keinen Platz mehr fand. Erst am Wochenende zuvor haben Nachbarn sie hier noch gesehen. Wie sie den Kinderwagen mit ihrer anderhalbjährigen Tochter zum Bahnhof schob, wo einmal die Stunde der Regionalexpress nach Frankfurt/Oder abfährt.
Wer ist diese Frau mit den dunklen, kurzen Haaren? Und vor allem: Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte eine Frau neun Kinder austragen und dann töten, ohne daß irgend jemand etwas davon bemerkte?
Im August 1965 geboren, wächst die jüngste von drei Schwestern in einem religiösen Haushalt in Brieskow auf. Vater Eberhard, ein Stellwerker, sitzt im Kirchenvorstand und besucht sonntags den Gottesdienst in der Martin-Luther-Kirche. Mit 17 Jahren verläßt das begabte Mädchen 1983 nach der 10. Klasse die Polytechnische Oberschule Wilhelm Pieck: "Sie war eine der besten Schülerinnen, die es je dort gegeben hat", erinnert sich Theuer.
Mit dem Schulende kommt der große Bruch im Leben von Sabine H. Sie lernt ihre erste große Liebe, den drei Jahre älteren Oliver H. kennen, einen Offizier der Nationalen Volksarmee, der später zur DDR-Staatssicherheit wechseln wird. Sabines Eltern brechen den Kontakt zu ihrer Tochter ab, auch weil Oliver nicht in ihre religiöse Welt paßt. Sabine heiratet den Mann und zieht zu ihm ins 15 Kilometer entfernte Frankfurt/Oder.
In einen Plattenbau am Platz der Demokratie. 100 Wohnungen, ein dunkles, enges Treppenhaus, ein Fahrstuhl, der nur alle vier Etagen einen Ausstieg hat, dünne Wände, Sperrholztüren. Hier im sechsten Stock wird Sabine H. in den nächsten Jahren immer wieder wohnen - Zwischenstation auf ihrer Odyssee durch ein halbes Dutzend Behausungen. Wohnungen, Laubenkolonien, sogar Campingwagen. In Brieskow-Finkenheerd, in Frankfurt/Oder, in Eisenhüttenstadt.
Und hier, auf dem Plattenbau-Balkon, bewahrt Sabine H. in Blumentöpfen jahrelang die Leichen ihrer Kinder auf. In die Töpfe pflanzt sie Blumen, gießt sie regelmäßig, setzt sich manchmal dazu. "Ich wollte alle in meiner Nähe haben", sagt sie der ermittelnden Staatsanwältin Annette Bargenda, spricht dabei in den Vernehmungen ruhig und gelassen. Sabine H. wirke nicht wie eine geistig Verwirrte, sagen die Ermittler.
Oliver H. ist der Vater aller 13 Kinder, die Sabine H. bislang entbunden hat. Das jedenfalls sagt sie aus.
Zum ersten Mal Mutter geworden ist sie mit 19 Jahren, im Juni 1984. Tochter Stefanie ist heute 21. In den nächsten zwei Jahren folgen Daniel und Ivo. Schon diese beiden Kinder seien nicht gewollt gewesen. Dann beginnt das Unvorstellbare. Sabine H. wird immer und immer wieder schwanger. Neunmal in elf Jahren. "Von Verhütung hat sie nicht viel gehalten", sagt die Staatsanwältin. Sabine habe nie einen Arzt aufgesucht, keine Behörde, kein Gesundheits- oder Sozialamt. Sie trennt sich von Oliver H., manchmal für Monate, kommt wieder mit ihm zusammen, wird erneut schwanger. Betäubt von Alkohol, ihrem stetigen Begleiter, bringt sie die Babys zu Hause auf die Welt. Allein. Im Promillerausch.
Zwei Tötungen hat Sabine H. inzwischen eingeräumt. Eine in Frankfurt/Oder, eine im niedersächsischen Goslar. Von dort fährt sie den Leichnam im Auto nach Brandenburg. In den anderen sieben Fällen will sie erst wieder zu sich gekommen sein, als die Babys schon verbuddelt waren. Wahrscheinlich hat sie die Neugeborenen mit einem Kissen erstickt, heißt es aus Polizeikreisen.
Sabine H. hat Zahntechnikerin gelernt, als Zahnarzthelferin gearbeitet. Nach der Wende 1989 jobbt sie, unter anderem als Serviererin, wechselt ein Dutzend Mal die Stelle, wird schließlich arbeitslos. "Sie hat sich gewünscht, daß ihr Mann sie einmal nach den Schwangerschaften fragt", sagt Staatsanwältin Bargenda. Oliver H. berichtet den Ermittlern, er habe nie etwas von den Schwangerschaften bemerkt. So wie nach bisherigem Ermittlungsstand auch sonst niemand - obwohl der Stasi-Mann bei weitem nicht der einzige Liebhaber im Nachwende-Leben von Sabine H. war.
Erst vor kurzem, im Juni, war das Jugendamt auf Sabine H. aufmerksam geworden, als Nachbarn ihrer bislang letzten Wohnung an der Lennestraße in Frankfurt/Oder wegen Ruhestörung die Polizei riefen. Die Beamten fanden die kleine eineinhalbjährige Elisabeth, Sabine Hs. jüngstes Kind, verwahrlost vor. Das Mädchen wurde zur Großmutter gebracht.
Rot senkt sich die Sonne am Abend über Brieskow-Finkenheerd, taucht die zerfallenen Häuser am Ortseingang, die breiten, frisch geteerten, aber menschenleeren Straßen in ein mildes Licht.
"Daß hier so etwas passieren kann, liegt nicht an unserer DDR-Vergangenheit", sagt Bürgermeister Theuer trotzig: "Im Gegenteil. Verhütung, Abtreibung, Kinderkrippe - das war doch alles kostenlos bei uns." Und fügt an: "Ich verstehe das alles nicht. Sie hatte doch alle Möglichkeiten der Welt."
"Sie hat sich gewünscht, daß ihr Mann sie einmal nach ihren Schwangerschaften fragt", sagt die Staatsanwältin. Doch der behauptet, nie davon gewußt zu haben.