Hamburg. Die Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten aus diesen Jahren. Heute: Die Geburtsstunde einer Attraktion.
Ich habe diesen Schrei noch in den Ohren, gellend, ein wenig erstaunt, begleitet von Krachen, Knirschen und Splittern. Ich spurtete in mein Kinderzimmer und da lag sie. Wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, strampelnd, und Gulliver gleich überlebensgroß inmitten eines Miniatur Wunderlandes voller kleiner Menschen, ebensolcher Häuser, Schienen und Züge.
Dass die Putzfrau meiner Eltern 1982 einen Schritt zu viel nach hinten machte, über meiner Modelleisenbahnplatte abstürzte und selbige unrettbar zertrümmerte, war letztlich auch meine Vertreibung aus meinem ganz persönlichen Miniaturwunderland. Denn Züge sollten hernach in meinem Kinderzimmer nicht mehr fahren.
Miniatur Wunderland: Ehemalige Nachtclubbesitzer und ihre Liebe zum Zug
Dem Zug meines Lebens wurden die Schienen auf direktem Wege nach Hamburg verlegt. Und hier saß ich an einem Tag im Herbst des Jahres 2000 in einem der Reporterzimmer des Hamburger Abendblattes im fünften Obergeschoss des Springer-Verlagshauses, als das Telefon klingelte und mich bei einer ebenso zähen wie unfassbar langweiligen Recherche zu irgendeiner nicht vollendeten Bausünde störte.
„Hier ist so einer, der will was von wegen Modelleisenbahn. Pü sagt, du sollst“, setzte mich die Redaktionssekretärin in Kenntnis über die Anweisung des Nachrichtenchefs Matthias „Pü“ Pützstück. Es machte Klick in der Leitung und eine freundliche Stimme sagte „Hallo?“ Sie stellte sich als Frederik Braun vor. Quiddje, der ich bin, hatte ich keinen blassen Dunst, wer Frederik Braun war.
Wusste also nicht, dass er in den letzten zehn Jahren vor diesem Anruf die Discothek „Voilà“ in Eilbek betrieben hatte, einen der erfolgreichsten Nachtclubs der Stadt. Dass er dies gemeinsam mit Zwillingsbruder Gerrit gemacht hatte und Kumpel Stephan Hertz und dass die Drei auch das Techno- und Trance-Label EDM gegründet hatten.
Klotzen, nicht klecken – und die Nummer eins in der Welt werden
Aber in diesem Gespräch sollte es um eine ganz andere Trance gehen – eine auf Schienen. „Ich würde Sie gerne für eine ganz besondere Geschichte begeistern. Das wird etwa Einzigartiges für Hamburg sein“, sagte Frederik Braun am Telefon. Ich war ganz Ohr. „Wir eröffnen in der Speicherstadt eine Modelleisenbahn!“
In diesem Moment konnte ich mich nicht mehr zu 100 Prozent auf das Gespräch konzentrieren, weil mir unwillkürlich das Bild einer auf der Spanholzplatte zappelnden Putzfrau ins Gedächtnis schoss, und eines Oberschenkels, der eine halbe Innenstadt samt Bahnhof rasierte und schutzlos festgeklebte Plastikmenschen in Fingernagelgröße zermalmte, die gerade noch unschuldig Zeitung gelesen hatten oder Obst einkauften.
„Es soll mal die größte Modelleisenbahn der Welt werden! Ein Miniatur Wunderland!“, riss mich Frederik Braun zurück ins Hier und Jetzt. Und ich begriff, dass ich es hier nicht mit Standard-H0-Platten von Märklin aus meiner Kindheit oder ein paar verschrobenen Gesellen zu tun hatte, die sich mit Schaffnermütze auf dem Schädel in dunklen Kellern der Realität und ihren Frauen entzogen. Nein – das hier sollte die Mutter aller Miniaturwelten auf diesem Erdball werden.
Frederik Braun war zu 1000 Prozent von seiner Idee überzeugt
„Vielleicht kommen Sie einfach mal auf unserer Baustelle vorbei und dann erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte. Wäre das was für’s Abendblatt?“ Wenn ich mich recht entsinne, machte ich kaum einen Tag später einen Fotografen für den Besuch in der Speicherstadt bei den Braun-Zwillingen klar. In mir wuchs diese unbestimmte Sehnsucht nach einem intakten Miniatur Wunderland. Und außerdem wollte ich diese H0-Bekloppten unbedingt kennenlernen.
Der Kultur- und Gewerbespeicher am Kehrwieder 2 lag damals noch im Dornröschenschlaf, und kaum jemand ahnte, dass er gerade dabei war, sich zu einem der touristischen Epizentren der Hansestadt zu entwickeln. Außer natürlich Frederik Braun, der zu 1000 Prozent von seiner Idee überzeugt war und es kaum erwarten konnte, sie der Welt zu präsentieren.
Vor der Eröffnung des Miniatur Wunderland: Eine Baustelle wie ein Ameisenhaufen
Er empfing das Abendblatt-Team im vierten Stock des Speichers, wo auf 450 Quadratmetern Fläche gerade Mitteldeutschland, der fiktive Ort Knuffingen und Österreich entstanden – die Keimzelle des Miniaturwunderlandes. Es roch nach Arbeit, Hektik, Schweiß und irgendwie elektrisch.
Der erste Gedanke beim Blick über die Modell-Landschaften: Wie kann man in diesem unfassbar komplexen Miniaturkosmos auch nur ansatzweise den Überblick behalten? Und wie soll das alles bis August 2001, dem anvisierten Eröffnungstermin, fertig werden?
Frederik Braun wirkte durch und durch optimistisch. Denn er vertraute seinem Team. Unter Anleitung der unumstrittenen Koryphäe unter den deutschen Modellbauern, Gerhard Dauscher aus Mühlhausen in der Oberpfalz, wurde in einem Casting unter glühenden Modelleisenbahn-Aficionados eine Mannschaft aus etwa 30 ausreichend Verrückten gebildet, die dazu bereit waren, sich im Dezember 2000 im Speicher einschließen zu lassen, um in mehr als 40.000 Arbeitsstunden den Auftakt zum Miniatur-Traum der Braun-Zwillinge zu verwirklichen.
Da stehen Männer, die 40 Stunden auf den Beinen sind, unrasiert, in schmutzigen Klamotten und Panik im Blick, zwischen den Eisenbahnlandschaften und versuchen, sich nicht gegenseitig anzuschreien. Christian Glawe, 26 Jahre alter Student der Umweltwissenschaften, hat unzählige der 50 000 Bäume der Anlage verklebt, außerdem sämtliche Rasenflächen gelegt und das Buschwerk gesetzt.
„Ich will nach Ägypten, ich will Sand. Grün kann ich nicht mehr sehen“, sagt er mit einem Unterton der leisen Verzweiflung. Kollege Harry Schmull bekommt Pickel, wenn er Berge sieht. So etwa zehn Tonnen Gips hat er wie ein Besessener zu Gebirgslandschaften verarbeitet. „Ich fahr nach Mecklenburg-Vorpommern, irgendwo aufs platte Land, bloß keine Berge. Noch nicht mal eine Erhebung will ich sehen“, sagt der 49 Jahre alte gelernte Koch, der auf Künstler umgesattelt hat und eigentlich Fantasy-Figuren, Monster und Drachen aus Gips modelliert.
Gerrit Braun – der Daniel Düsentrieb der Modelleisenbahntechnik
Schon die Keimzelle des Miniatur Wunderlandes wirkte riesig und in seiner Technik beeindruckend. Unweigerlich kamen wir darauf zu sprechen, wie hoch die Investitionen eigentlich sind und wie viele Modelleisenbahnfreunde es brauchen würde, um all das zu refinanzieren und am Ende irgendwann Gewinn zu machen.
Frederik Braun erzählte dazu die Geschichte, wie er mit seiner auf zwei DIN-A4-Blättern gekritzelten Idee von der größten Modelleisenbahn der Welt ins Büro eines Bankers der Hamburger Sparkasse marschiert war, um 2 Millionen Mark auf Pump zu ergattern, als Anschubfinanzierung – und sich eigentlich auf eine Lachsalve und freundliche Ablehnung eingestellt hatte. Doch offenbar waren die Brauns bei der Haspa auf die ersten potenziellen Besucher der Anlage gestoßen. Es dauerte nicht lange und die Hausbank stellte das Signal auf Grün und ließ Geld fließen.
Miniatur Wunderland: Vater Braun mag Züge – und ihn faszinieren Flugzeugabstürze
Auf der Baustelle kam uns nun Jochen W. Braun entgegen, der Vater der Zwillinge. Er sei es gewesen, sagte Frederik Braun, der sie an das Thema Modelleisenbahn herangeführt und in ihnen das Feuer für Miniaturzüge in ebensolchen Landschaften geweckt habe. Natürlich packte Papa Braun auf der Baustelle mit an. Neben dem Schienen- hatte es Jochen W. Braun übrigens besonders der Flugverkehr angetan. Wenn auch eher auf einer interessanten psychologischen Ebene: Aufgrund seiner Flugangst legte er eine Datenbank mit 48.000 Einträgen über Flugunfälle an und schrieb Bücher zum Thema.
Inmitten blühender (Miniatur-)Landschaften, tauchte nun der Kopf von Gerrit Braun auf. Natürlich hatte er gerade Kabel in der Hand und konnte selbige deswegen nicht zum Gruß reichen. Gerrit Braun – das Technik-Mastermind im Wunderland der Miniatur:
Der besondere Wahnsinn liegt in den Details der Anlage. Gerrit Braun wollte sich nicht mit Modellautos zufrieden geben, die einfach nur im Gänsemarsch im Kreis durch die Landschaft gondeln. So wie es der Hersteller der Magnetstraßen für Modelleisenbahnen vorsieht. Da setzte sich Gerrit an den Computer, programmierte wild herum, und nun achten die Wägelchen auf rechts vor links, blinken artig, halten an der Ampel, parken passgenau ein oder fahren konzertierte Feuerwehr-Einsätze. Gerrit: „Geht doch gar nicht, haben die von der Hersteller-Firma gesagt.“
Die Braun-Zwillinge bilden ein kongeniales Duo
Als Mickey-Mouse-Heftchensammler kannte Gerrit Braun selbstredend Daniel Düsentrieb und wie man ihn da so in der Anlage stehen sah, drängte sich der Vergleich mit jenem anthropomorphen Huhn und Diplom-Ingenieur aus der Feder von Carls Barks förmlich auf. Nicht, weil Gerrit Braun aussah wie ein Huhn – er war nur ebenso genial wie einfallsreich. Der Wirtschaftsinformatiker hatte in einem anderen Leben schon Zeitmessinstrumente für den Motorsport entwickelt und eine bis dahin einmalige Abrechnungssoftware für die Gastronomie, die noch heute genutzt wird.
Bei den Besuchen auf der Baustelle bis zur Eröffnung der Anlage mit Bürgermeister Ortwin Runde am 16. August wurde mir schnell klar, dass es Hamburg hier mit einem kongenialen Erfolgs-Duo zu tun bekommen würde: Hier das rationale Technik-Genie Gerrit, dort der visionäre Unternehmer Frederik, dazu ein ruhig die Weichen korrigierender Vater und mit Stephan Hertz ein vertrauter Geschäftspartner und Freund, mit dem man seit Jahren durch Dick und Dünn ging. Konnte nicht schief gehen.
Projekt Miniatur Wunderland: Wagemut, Spirit und kindliche Begeisterung
Vor allem: Bei diesem Projekt ging es um Spirit, um Wagemut, um kindliche Begeisterung und Passion. Das war eben nicht nur eine Modelleisenbahn, das war ein Miniaturwunderland mit Betonung auf Wunder, und Hamburg konnte von Glück reden, dass diese Idee an der Elbe wuchs. Und zwar ausgeführt von absoluten Experten für Experten. Wer daran Zweifel hatte, war nach einem Treffen mit Karl-Heinz Kahl bekehrt.
Und dann ist da Karl-Heinz Kahl, ein 53 Jahre alter Diplom-Ingenieur, der zu Hause sein „Triebfahrzeuge-Archiv“ mit 74 000 erfassten Lokomotiven pflegt. Dieser Mann kann einem sagen, welche Loks die Deutsche Bahn wann gekauft hat und wo die jetzt gerade herumfahren. Für die Bahnen in Frankreich und in anderen Ländern weiß er das auch. Im Miniatur-Wunderland ist er für die Etikette zuständig: „Geht doch nicht, dass rote DB-Cargo Schüttwaggons mit PWG-14-Güterwaggons zusammenhängen. Das gab es in echt nie, also auch nicht im Modell.“ Derart kategorisch kümmert er sich um 500 Züge und 7000 Waggons der Anlage.
„250 bis 300 Besucher pro Tag – so viele müssten es schon sein!“
Am Ende der Führung kam Frederik Braun dann doch ein wenig ins Grübeln. So 250 bis 300 Besucher am Tag müssten es nach der Eröffnung der Anlage schon sein, damit sich die Sache rechnerisch trägt. Klang damals echt nach viel. Doch keine Zeit für’s Grübeln – denn es klingelte schon wieder sein Telefon, irgendjemand schrie „Freeeeedddyyy!“ aus irgendeiner Ecke der Anlage und nach einem hastigen „Ich freu mich auf den Artikel!“ war Frederik Braun in den Untiefen des Wunderlandes verschwunden.
In den Redaktionskonferenzen der Hamburg-Redaktion des Abendblattes musste man als Reporter immer um Zeilen und Platz in der Zeitung kämpfen – sowieso wenn man von einer werdenden Modelleisenbahnanlage berichtete. Es galt den Kollegen zu vermitteln, was dort am Kehrwieder entstand und zu verhindern, dass jene Bilder von der staubigen H0-Anlage in Opas Keller in den Köpfen aufkamen. Ich musste genau jenen Spirit verbreiten, den Freddy Braun für sein Projekt hatte und bekam eine Ahnung davon, welche Kämpfe er zu Anfang ausgefochten haben mussten.
Doch am Ende war es dann doch leichter als gedacht. Weil auch in den Augen leitender Redakteure beim Stichwort Modelleisenbahn sofort etwas zu Leuchten begann. Über mangelnde Wertschätzung im Abendblatt konnten sich die Brauns schließlich nicht beschweren.
Kalkulation der Brauns ging schief – es wurde alles viel besser
Müßig zu erwähnen, dass Frederik Brauns Einnahmen-Ausgaben-Rechnung aus dem Jahr 2001 natürlich überhaupt nicht aufging. Den gleich vom Start weg wurde das Miniatur Wunderland überrannt, Schlangen am Kehrwieder wurden Usus. 22 Millionen Besucherinnen und Besucher kamen bis heute ins Wunderland – und jeden Tag werden es mehr. So wie die Miniaturwelt selbst: Aus den 450 Quadratmetern Fläche von damals sind heute 10.000 Quadratmeter Miet- und 1610 Quadratmeter Modellfläche geworden.
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Zu Mitteldeutschland, Knuffingen und Österreich kamen viele neue Welten hinzu – Amerika, Schweiz, Italien, Monaco, natürlich Hamburg, eine Kirmes, Skandinavien, Venedig, Rio und Patagonien. Und dort fahren auf 16.491 Metern Gleisen 1166 Züge, die 10.645 Waggons ziehen. Es ist – eben – ein Wunder, en miniature.
Miniatur Wunderland: Hamburg kann froh sein, dieses Wunder zu haben
Und übrigens: Natürlich hatte ich die Brauns damals gefragt, ob sie Putzfrauen in der Anlage beschäftigen und ob diese entsprechend eingewiesen seien. Eher Putzmänner, sagte Fredrik Braun. Und es wären nicht die Brauns, wenn sie dafür nicht auch eine technische Lösung ertüftelt hätten. Auf einem Holzgestell über einem Teil der Anlage schwebte damals ein Mitarbeiter und saugte Fussel aus Knuffingen weg. Bei diesem Anblick hatte ich wieder jenes Knirschen, Krachen und Splittern im Ohr. Jedoch – alles ging gut, der Sauger rauschte. Nur ab und zu verschwanden neben Fusseln auch kleine Menschen in der Anlage, im ersten Jahr so etwa 126.
Eine Putzfrau mag mich für alle Zeit aus dem Miniatur Wunderland meiner Kindheit vertrieben haben. Aber ist es nicht ein tröstender Gedanke, dass dort in der Speicherstadt, am Kehrwieder, immer das größte Miniatur Wunderland der Welt auf einen wartet?