War sie unser Star für Oslo, oder wird sie unser Star in Oslo? Millionen Deutsche fiebern diesen Sonnabend mit Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest - ein Vorgeschmack auf die Fußball-WM, bei der die kollektive Euphorie auch schon Teil des Ereignisses ist.

Das kann schon an den Nerven zerren: Da steht Lena auf der Bühne in Oslo, und wir können nichts tun. Aber so sind nun mal die Regeln: Die Zuschauer des "Eurovision Song Contests" dürfen nicht für ihr eigenes Land stimmen. Theoretisch könnte man sich das Handy schnappen, mal eben nach Dänemark hinüberhuschen, um von dort aus für Lena ein Votum abzugeben, aber dafür ist es natürlich zu spät. Wir haben drei Minuten, in denen wir allein zum Zuschauen verurteilt sind.

Wie praktisch war das doch damals beim Finale der Castingshow "Unser Star für Oslo". Ein paar SMS-Tipper und kostenpflichtige Anrufe, und drei Minuten später war Lena der Star für Oslo. Jetzt schuldet sie uns 50 Cent pro Anruf, dafür haben wir mit dem Handy Pop-Geschichte geschrieben.

"Die Menschen werden dich lieben"

Am Anfang stand Lena in der "Castingbox", jenem Container, der quer durch die Republik gekarrt wurde auf der Suche nach Talent. Mit der Startnummer 5053 tauchte sie aus der Masse von 5400 Konkurrenten auf, indem sie "My Same" von der britischen Sängerin Adele interpretierte. Nach ihrem ersten Auftritt mit diesem Lied bei "Unser Star für Oslo" war nicht nur Marius Müller-Westernhagen klar: "Die Menschen werden dich lieben."

Der letzte Popstar, der aus einem Container kam, war übrigens der "Big Brother"-Kandidat Zlatko Trpkovski im Jahr 2000. Nach seinem Nummer-eins-Hit "Ich vermisse dich wie die Hölle" scheiterte er allerdings desaströs mit dem Lied "Einer für alle" an der deutschen Vorentscheidung für den Eurovision Song Contest 2001. Auch er hatte drei Minuten, aber seither vermisst ihn keiner wie die Hölle.

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Und was ist, wenn Lena scheitert? Um sich vor Augen zu führen, was in drei Minuten alles geschehen kann, muss man sich nur an das Champions-League-Finale 1999 erinnern, als Bayern München in der Nachspielzeit zwei Tore von Manchester United kassierte und jäh vom Triumph in die Tragödie abstürzte.

Der Druck ist groß an diesem Sonnabend in Oslo: "Der Lärmpegel in der Halle ist ohrenbetäubend und die Stimmung extrem aufgeheizt. Man sollte diese positive Aufregung in sich aufnehmen und genießen", sagt Jane Comerford, Sängerin der Hamburger Gruppe Texas Lightning, die 2006 Rang 15 erreichte. Für Lena wäre alles andere als ein Platz unter den ersten zehn eine Enttäuschung. Was den Deutschen bliebe, wären ein paar schöne Erinnerungen.

Ein Sommermärchen braucht nicht unbedingt den Sieg

Aber noch wird mitgefiebert. Vor dem Fernseher, bei der Hamburger Eurovisions-Party auf dem Spielbudenplatz und beim Public Viewing in Lenas Heimatstadt Hannover. Lena kann vielleicht nicht singen wie eine junge (!) Whitney Houston, und ihr Tanzstil ist auch eher unkonventionell, aber sie startet für Deutschland. Das heißt: für uns. Das erinnert ein bisschen an den Geist der WM 2006. Unerwartet spannende und schöne Momente, gemeinsam erlebt und bejubelt, schufen damals ein Sommermärchen, dem auch "nur" Platz drei für die deutsche Elf das Happy End nicht vermiesen konnte.

Und wieder feiert man sich warm für eine Weltmeisterschaft. Da kommt Lena gerade recht - gewissermaßen als Bindeglied zwischen dem Eishockey-Frühlingsmärchen und dem Anstoß in Südafrika. Ihr werden die Daumen gedrückt, sie soll die Sehnsucht nach einem überraschenden Erfolgserlebnis stillen.

Zugegeben: Lena, ihr Lied "Satellite" und das ganze Drumherum konnten einem auch unsagbar auf die Nerven gehen. In Rundfunk, Fernsehen, Zeitung und Internet wurde selbst die kleinste (Nicht-)Nachricht zur Sensation hochgejubelt. Nur eine Flucht nach Sibirien, am besten gleich an den Fluss Lena, hätte da helfen können. Ruhe an der Lena vor Meyer-Landrut. Aber ein Triumph des Guten wie ABBA oder des Bösen wie Lordi will man dann doch nicht verpassen. Der Hauch der Popgeschichte weht drei Minuten, und sei es als heiße Luft.

Die Beatles brauchten weniger als drei Minuten, um Popgeschichte zu schreiben. Deren erster Nummer-eins-Hit "Please Please Me" veränderte am 11. Januar 1963 in exakt 2:03 Minuten die Welt. Für immer. ABBAs "Waterloo" brauchte schon 2:42 Minuten. Ach, Zahlenspiele, so kompliziert wie die eingeblendeten Televoting-Nummern für die Kandidaten in Oslo. Vor Lena Meyer-Landrut ist die Armenierin Eva Rivas mit "Apricot Stone" an der Reihe. Man könnte für sie anrufen. Man kann es auch lassen.

Udo Jürgens bekam 1966 nicht einen Jury-Punkt aus Deutschland

Die Urteile der internationalen Jurys gehen zur Hälfte in die Wertung ein, um Sympathiepunkte und Antipathiepunkte zu vermeiden. Wie naiv: Udo Jürgen und sein Siegerlied für Österreich ("Merci, Chérie") bekamen 1966 nicht einen Jury-Punkt aus Deutschland. Österreich rächte sich 1982 mit einem ironischen Punkt für Nicoles "Ein bisschen Frieden". So viel zur guten Nachbarschaft. Österreich ist dieses Jahr nicht dabei. Vielleicht gibt es aber aus der Schweiz Punkte im Dutzend für Lena.

Binnen drei Minuten könnte Hannover nach Scorpions, Fury in the Slaughterhouse und Mousse T. mal wieder einen internationalen Popstar hervorbringen. Und der Eurovision Song Contest 2011 würde in Berlin ausgetragen; nach glamourösen Events giert man ja gern an der Spree. Für Hamburger fast ein Grund, mit dem Telefon alles dafür zu tun, dass der Popzirkus nächstes Jahr in Baku, Tiflis oder Eriwan gastieren muss. Wie war die Televoting-Nummer für Olia Tira aus Moldawien?

Drei Minuten sind eine Ewigkeit, wenn man für Lena nur Daumen, aber nicht ihre Televoting-Nummer drücken kann. Wir können nichts tun außer zuzusehen und zuzuhören. 180 bange Sekunden lang.