Hamburg. 22 Jahre ist es her, dass dem Kiezclub die Sensation gelang. Nun wäre die Überraschung noch größer. Der Glaube ist da – trotz des HSV.
Natürlich wurde in dieser Woche wieder viel über die Vergangenheit geschrieben und gesprochen. Immerhin empfängt der FC St. Pauli an diesem Sonnabend erstmals seit 13 Jahren in einem Pflichtspiel wieder einmal den FC Bayern München. David gegen Goliath. Klein gegen Groß. Königklassen-Establishment gegen Non established since 1910. Ein Highlight-Spiel für Fans, Träumer, Wundergläubige, unverbesserliche Optimisten – und Historiker.
Sie alle erinnern sich in diesen Tagen an den 6. Februar 2002. An einen dieser magischen Momente, der Fußball zu etwas Besonderem macht, der in 90 Minuten alles andere vergessen lässt, über den auch Jahrzehnte später noch gesprochen wird, der Kindern und Enkeln berichtet wird. Der Weltpokalsiegerbesiegermoment.
Vor 22 Jahren besiegte St. Pauli den FC Bayern
2:1 hatte der Kiezclub den Rekordmeister am Millerntor besiegt. Es war der einzige Heimsieg des FC St. Pauli gegen den FC Bayern seit Gründung der Bundesliga 1963 – und es war mit Sicherheit auch der schönste Millerntorerfolg überhaupt. St. Pauli stand Kopf, der Kiez explodierte – und später wurden die berühmten T-Shirts mit dem unvergesslichen Aufdruck „Weltpokalsiegerbesieger“ unter die Leute gebracht.
Was in der Rückbetrachtung in diesen Tagen oft ein wenig zu kurz kommt: St. Paulis damaliger 2:1-Sieg gegen die Bayern war zwar denkwürdig – eine wirkliche Sensation war der Erfolg aber nicht. Die Münchner waren nach dem Sieg des Weltpokals und der Champions League über ihren Zenit, wurden in der Saison hinter Dortmund und Leverkusen sogar nur Dritter. Und trotzdem war der Abstand zwischen St. Pauli und den Bayern natürlich groß.
War. Mega-uneinholbar-unglaublich-riesengroß IST dieser Abstand aber nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Der Kader von Aufsteiger St. Pauli hat einen Marktwert von beeindruckenden 40 Millionen Euro. Das Starensemble von Harry Kane, Jamal Musiala und Manuel Neuer hat einen zusammengerechneten Wert von schier unglaublichen 940 Millionen. Neunhundertvierzigmillionen!
Umsatz, Transferausgaben, Gehaltsetat – natürlich kann man all diese Parameter miteinander vergleichen. Das Ergebnis wird stets das Gleiche sein: Sollte St. Pauli an diesem Sonnabend erneut die Bayern schlagen, dann wäre das wirklich eine Sensation, ein Wunder, ein Grund, sofort neue T-Shirts zu drucken und zu verkaufen.
St. Paulis Fans dürfen von einem Wunder träumen
Nach objektiven Kriterien ist so ein Erfolg allerdings nicht möglich. Das Schöne ist aber: Der Fußball hält sich glücklicherweise bisweilen nicht an derartige Objektivitäten. St. Paulis Anhänger dürfen zwar von einer 0:5-Klatsche ausgehen, aber von einem erneuten 2:1-Wunder träumen.
Denn: Wunder gibt es immer wieder. So lautete auch die Abendblatt-Zeile vor einem der bislang letzten Bayern-Spiele gegen Hamburg. Am 25. Februar 2017. Allerdings war es vor sieben Jahren nicht der FC St. Pauli, der dieses Wunder anstrebte, sondern der HSV. Der damalige Bundesligadino, der mittlerweile ein Zweitligadino geworden ist, hatte sich davor sieben Niederlagen in Folge mit 3:37 Toren in München abgeholt. Und trotzdem fragte das Abendblatt damals, warum nicht an jenem Wochenende das nächste Herorenstück in der langen Geschichte des Nord-Süd-Klassikers fällig sein könnte.
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Nun, die schmerzhafte Antwort folgte wenig später. 8:0 gewannen die Bayern gegen den HSV. Wunder? Das mag etwas für St.-Pauli-Träumer, unverbesserliche Optimisten und Historiker sein. Nicht aber für leidgeplagte HSV-Fans, die ein Jahr später dann auch noch Bekanntschaft mit der Zweiten Liga machen durften.
Doch kann oder sollte der FC St. Pauli aus diesen HSV-Erinnerungen etwas lernen? Eindeutige Antwort: nein! Denn wahrscheinlich werden die fast Eine-Milliarde-Euro-Bayern am Sonnabend den FC St. Pauli nach allen Regeln der Kunst auseinandernehmen – vielleicht aber auch nicht. Denn was wäre der Fußball, wenn man nicht auch in diesen Tagen an das Irrationale glauben kann? An eine denkwürdige Sensation? An einen Moment, von dem man noch seinen Kindern berichtet? Oder ganz einfach an ein Wunder?
Steigt St. Pauli ab – und der HSV auf?
Ich lege mich deswegen fest: St. Pauli gewinnt am Sonnabend 1:0, der Kiez bebt, neue T-Shirts werden gedruckt. Dann kommt der Kater nach dem Rausch. Am Ende der Saison werden die Bayern trotz der Schmach Meister, St. Pauli steigt ab – und der HSV auf.
Und das wäre dann wirklich ein Wunder.