Hamburg. St. Paulis Flügelspieler erklärt besonderen Karriereweg im Amateurfußball. Seine Kindheitsfreunde sind heute internationale Topstars.
Den Geburtstag seines Kumpels hatte Oladapo Afolayan natürlich nicht vergessen. „Ich kenne Tammy und die anderen Jungs, seitdem ich acht bin. Wir sind immer noch miteinander befreundet“, sagt der Flügelstürmer des FC St. Pauli, als er am Mittwochnachmittag im Trainingszentrum an der Kollaustraße sitzt.
„Tammy und die anderen Jungs“, wie sie Afolayan nennt, haben zusammengerechnet einen Marktwert von 115 Millionen Euro. Sechs Jahre lang spielten Fikayo Tomori, Geburtstagskind Tammy Abraham (beide AC Mailand) und Dominic Solanke (Tottenham Hotspur) mit Afolayan in der Jugend des FC Chelsea.
FC St. Pauli: Afolayan lehnte mit 14 ein Chelsea-Angebot ab
Die Wege der Londoner Freunde trennten sich, als Afolayan 14 war. Die Premier League hatte damals eine Nachwuchsreform angestoßen, wonach die Toptalente deutlich stärker bei den Clubs gefördert werden sollten. Afolayan sollte seine Schule verlassen, zu einer Gastfamilie ziehen und von Privatlehrern beim FC Chelsea weiter in den Grundfächern unterrichtet werden.
„Chelsea hatte zu dem Zeitpunkt die beste Jugendakademie der Welt. 60 bis 70 Prozent der Spieler, mit denen ich als Achtjähriger zusammengespielt habe, sind heute Profis in den besten Ligen Europas“, sagt Afolayan, der damals kurz vor seinem GCSE (mittlerer Schulabschluss) stand – und das Angebot des West-Londoner Topclubs deshalb ablehnte.
Bildung war für die Familie Afolayan wichtig
„Meine Eltern und ich haben uns zusammengesetzt und die Argumente abgewogen. Anfangs war ich enttäuscht darüber, habe dann aber schnell verstanden, dass es die richtige Entscheidung ist. Meine Eltern haben immer gesagt, dass Fußball großartig, aber nicht alles im Leben ist“, sagt Afolayan. „Es wäre ein großes Risiko gewesen, die Bildung für so einen Schritt zu opfern. Ich kenne Jungs, die es damals anders gemacht und dann nicht zu den Profis geschafft haben. Die haben es jetzt deutlich schwerer, weil sie ihre Bildung nachholen müssen.“
Sein GCSE machte er damals ausschließlich mit A- und B-Noten, was einem deutschen Einserschnitt entspricht. Als seine Mutter kurz darauf einen Job in Kanada annahm, ging Afolayan mit, spielte fortan im Nachwuchs und in der zweiten Mannschaft des MLS-Clubs Toronto FC.
Chelseas U 19 gewann ohne Afolayan die Uefa Youth League
Im Fernsehen sah Afolayan, wie Abraham, Solanke und seine anderen früheren Mitspieler die Uefa Youth League, die U-19-Champions-League der A-Junioren, gewannen. Diese Erfolge nicht miterlebt zu haben, bereut er heute jedoch nicht. „Ich habe es geliebt, in meine Schule zu gehen und gemeinsam mit meinen Freunden zu lernen. Auch heute genieße ich es noch, neue Sachen zu lernen“, sagt der 27-Jährige.
Nach zwei Jahren in Kanada zog die Familie zurück nach London, wo sich Afolayan an der Loughborough University für Bauingenieurwesen einschrieb. Auch heute noch legt der Engländer viel Wert auf Bildung, liest mehrere Bücher. Der Flügelstürmer, das wird im Gespräch deutlich, definiert sich nicht nur über seinen Job als Profifußballer.
Afolayan sieht das Bildungssystem auch kritisch
Statt über Tore, Taktik und das kommende Bundesligaspiel gegen Mainz 05 am Sonnabend (18.30 Uhr/Sky) macht sich Afolayan auch über die Gesellschaft Gedanken. Das Bildungssystem etwa sehe er auch „kritisch“, sagt Afolayan und lässt sich etwas tiefer in das Sofa fallen. „Ich weiß, dass Universitäten und Abschlüsse ihre Berechtigung haben. Trotzdem zwingen wir 18-Jährige dazu, sich entscheiden zu müssen, was sie für den Rest ihres Lebens machen wollen“, sagt er. „Ich habe mich damals für Bauingenieurwesen entschieden. Wenn ich jetzt noch mal studieren würde, würde ich eher in Richtung Psychologie und Sportpsychologie gehen wollen. Daran sieht man, wie sich Interessen ändern können.“
Mit der Loughborough-Universitätsmannschaft kickte er zeitweise in der Neunten Liga, wechselte dann zum Fünftligisten Solihull Moors an den Stadtrand von Birmingham. Auch Viertligist AFC Rochdale war zu dieser Zeit an ihm interessiert, Afolayan lehnte aber ab. Bei Solihull konnte er parallel weiter studieren und nur zweimal pro Woche trainieren. Teilweise absolvierte er die Einheiten auch weiterhin bei seinem Universitätsteam in Loughborough.
Mehrere Jahre in der Vierten und Fünften Liga
Non-League-Football nennen sich die Spielklassen, die in England unterhalb der League Two (Vierte Liga) angesiedelt sind. „Die Ligen in England lassen sich nicht mit Deutschland vergleichen. In der Vierten Liga spielen ausschließlich Profis. Ich habe sogar Freunde, die in der Sechsten Liga spielen und Profis sind. Dieser Non-League-Fußball hat aber auch seine Tücken. Da kommt es vor, dass der Manager zu einem sagt, dass man am Wochenende nicht spielen darf, weil der Club kein Geld hat, um das Gehalt zu zahlen“, sagt Afolayan.
Nach eineinhalb Jahren bei Solihull meldete sich der Londoner Premier-League-Club West Ham United, der ihn für die U 21 verpflichten wollte. „Der Wechsel war eine große Umstellung. Auf einmal war ich nicht mehr ein Student, der ab und zu abends trainiert hat, sondern Vollzeitfußballer“, erinnert sich Afolayan, der in den folgenden Spielzeiten zu Oldham Athletic, Mansfield Town und den Bolton Wanderers in die Vierte Liga verliehen wurde. Nach dem Drittligaaufstieg wechselte er fest nach Bolton, ehe ihn der FC St. Pauli im Januar 2023 für rund 600.000 Euro verpflichtete.
Afolayan musste sich früh im Männerfußball beweisen
Durchsetzen konnte sich der Engländer mit nigerianischen Wurzeln schon immer. „Ich spiele gegen Männer, seitdem ich 16 bin. Ich habe früh gelernt, wie ich meinen Körper einsetze und Zweikämpfe führen muss“, sagt er. „Bei St. Pauli habe ich mich taktisch massiv verbessert. Außerdem habe ich verstanden, wie wichtig die kleinen Details sein können, der erste Ballkontakt, die perfekte Technik beim Passen.“
Nachdem er in der vergangenen Aufstiegssaison noch zum Stammpersonal gezählt hatte, saß er unter dem neuen Trainer Alexander Blessin in den ersten Pflichtspielen nur auf der Bank. „Es ist schwierig, das Team verlieren zu sehen und das Gefühl zu haben, nicht auf dem Platz helfen zu können. Ich hatte aber nie das Gefühl, dem Trainer beweisen zu müssen, was ich kann. Ich kenne meine Stärken und weiß, dass ich der Mannschaft damit helfen kann“, sagt Afolayan, der sich seinen Stammplatz mittlerweile zurückerobert hat.
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Sein rasanter Aufstieg vom Viertligaprofi zum Bundesligaspieler binnen vier Jahren lässt ihn manchmal auch nachdenklich werden. „Als Fußballprofi lebt man stets in der Gegenwart. Wenn man dann nach ein paar Jahren zurückschaut, kommt einem der Karriereweg fast etwas unwirklich vor“, sagt Afolayan, ehe er hinterherschiebt: „Ich bin noch nicht am Ende meiner Entwicklung. Mein nächstes Ziel ist, für Nigeria zu spielen und an großen internationalen Turnieren teilzunehmen. Davon habe ich immer geträumt.“ Und vielleicht trifft er dann auch seine alten Chelsea-Freunde auf dem Fußballplatz wieder.