Hamburg. Was der punktlose Bundesliga-Aufsteiger selbst Leverkusen und Bayern München voraus hat. Ein Torschütze hat gar eine Trophäe am Körper.

Auch nach mehr als achteinhalb Jahren kann sich Marc Rzatkowski noch genau an jene Szene erinnern, mit der er dem FC St. Pauli einen Rekord der ganz besonderen Art bescherte. „Es war eine richtig schöne Kombination, dann ein perfekt getimter Rückpass von Daniel Buballa. Und mein Abschluss war genau so gewollt – durch die Beine des Verteidigers ins lange Eck, Peter Gulacsi war ohne Chance“, erzählt Rzatkowski so klar, als habe sich diese Szene erst gestern abgespielt.

Was der heute 34 Jahre alte Rzatkowski im Gespräch mit dem Abendblatt da beschreibt, ist das bisher letzte Tor, das der FC St. Pauli gegen – der Name des Torwarts verrät es – RB Leipzig erzielt hat. Es war der Treffer zum 1:0-Sieg der Millerntor-Elf am 12. Februar 2016. Am Ende der Saison setzten die dank ihres koffeinhaltigen Geldgebers bestens aufgestellten Sachsen ihren Marsch durch die Ligen fort, stiegen in die Bundesliga auf, während St. Pauli als Vierter auch die Relegation verpasste.

St. Pauli spielt am Sonntag erstmals seit 2016 wieder gegen Leipzig

Seither haben sich die Wege der so gegensätzlich aufgestellten Clubs auf dem Rasen nicht wieder gekreuzt. Das ändert sich am Sonntag (19.30 Uhr/DAZN), wenn RB erstmals wieder ins Millerntor-Stadion kommt. St. Paulis Aufstieg in die Bundesliga hat es möglich gemacht.

Sowohl die ungarischen Nationalspieler Gulasci und Willi Orban als auch der dänische Nationalstürmer Yussuf Poulsen und Verteidiger Lukas Klostermann, die heute noch zum Leipziger Ensemble zählen, waren auch damals schon dabei. Das spricht bei ihnen einerseits für eine bemerkenswerte Vereinstreue, andererseits auch dafür, dass RB Leipzig schon in seinen beiden Zweitligajahren mit Topspielern für höhere Aufgaben ausgestattet war.

„Es war ein echtes Millerntor-Flutlichtspiel. Volles Haus, das Stadion hat gekocht, und wir haben bis zum Abpfiff leidenschaftlich gekämpft, bis der 1:0-Sieg feststand“, erinnert sich Rzatkowski.

Zweimal traf Lennart Thy für St. Pauli zum 1:0-Sieg

Kurios und fast schon historisch ist allerdings, dass die St.-Pauli-Mannschaft in jener Saison auch schon das Hinspiel in Leipzig und zudem das Heimspiel in der Rückrunde der vorherigen Spielzeit jeweils mit 1:0 gewonnen hatte. Beide Male war Stürmer Lennart Thy (32) der Siegtorschütze, der seit diesem Sommer in Singapur spielt. Diese drei 1:0-Siege gegen RB Leipzig in Folge stellen nämlich im deutschen Profifußball derzeit einen einsamen Rekord dar. Kein anderer Club, auch nicht Meister Bayer Leverkusen, Bayern München oder Borussia Dortmund haben ihre vergangenen drei Spiele gegen RB Leipzig gewonnen. Diese Bestmarke des FC St. Pauli steht am Sonntag aber nun auf dem Spiel, denn auch diesmal wird der Gegner aus Sachsen als klarer Favorit ins Spiel gehen.

Vor allem an den Auswärtssieg am 23. August 2015, übrigens ebenso wie jetzt am vierten Spieltag, kann sich Innenverteidiger Lasse Sobiech besonders gut erinnern. „Da sind damals Tausende angereist, was der absolute Hammer bei so einem Auswärtsspiel war. Ich weiß noch, wie wir nach unserem Sieg in Leipzig vor der Tribüne standen, auf der unsere Fans relativ weit oben ihre Plätze hatten. Dennoch ist da ganz viel an Motivation und Stimmung auf den Rasen hinübergeschwappt“, erzählt der frühere Kapitän.

Ex-Kapitän Lasse Sobiech: „Kein normales Spiel für unsere Fans“

„Wir Spieler haben gegen Leipzig jedes Mal stark gespürt, dass es für die Fans kein normales Spiel ist. Daher war bei uns gegen RB Leipzig, wo ja eine ganz andere Philosophie von der Clubstruktur her herrscht, immer eine totale Leidenschaft zu spüren und eine ganz hohe Ambition, gerade diese Spiele zu gewinnen. Klar war ja auch damals schon, dass RB finanziell ganz anders aufgestellt ist als St. Pauli“, sagt Sobiech weiter.

Und sein damaliger Nebenmann in der Innenverteidigung, Philipp Ziereis (31), pflichtet mit Blick auf die beiden Heimsiege bei: „Schon beim Warmmachen hat man noch einmal eine andere Energie auf den Rängen gespürt. Das war schon eine Atmosphäre wie bei einem Pokalspiel gegen eine hoch favorisierte Mannschaft.“

Ex-St.-Pauli-Verteidiger sieht RB Leipzig als „Inbegriff des Kommerzes“

„RB Leipzig war schon damals der Inbegriff des Kommerzes. Daher war und ist es gerade für St. Pauli etwas ganz Besonderes, gegen diesen Club und diese Mannschaft auch als klarer Außenseiter anzutreten. Daher konnten wir auch ohne Druck in die Spiele gehen. Umso schöner ist es dann natürlich, wenn man sie mit einem 1:0 über die Zeit bringst“, sagt Außenverteidiger Daniel Buballa (34) in der Nachbetrachtung.

Der Ausdauer- und Sprintspezialist, den Rzatkowski so lobend als Vorlagengeber erwähnte, spielt inzwischen für Eintracht Trier in der Regionalliga Südwest und ist dort auch bereits als Co-Trainer tätig.

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„Wir waren in den Matches spielerisch total unterlegen, das muss man ganz ehrlich so sagen. Auf dem Spielfeld hat man die Parallelen zur finanziellen Ausstattung beider Clubs gesehen. Wir kamen ein bisschen mehr über Härte, über das Kämpfen, Kratzen und Beißen und den Willen, unser Tor zu verteidigen. Leipzig kam über Schnelligkeit, Technik und ein schön anzusehendes Spiel“, berichtet Sobiech.

Und weiter: „Damals sind die Fans und die Mannschaft noch einmal stärker miteinander verschmolzen, weil sie gesehen haben, wie wir uns zerrissen haben und genau den Fußball gespielt haben, den sie gegen Leipzig von uns sehen wollten. Wir als Mannschaft waren super froh, dass wir den Fans gerade in diesen Spielen etwa zurückgeben wollten.“ 

St. Paulis Siegtorschütze Rzatkowski trug eine Narbe davon

Blessuren trugen aber auch St.-Pauli-Profis davon, wie der letzte Siegtorschütze Rzatkowski berichten kann: „Es war ein unvergesslicher Abend – meine Narbe am Knie vom Zusammenprall mit Emil Forsberg erzählt heute noch die Geschichte davon.“ Die wird wohl länger erhalten bleiben als die Siegesserie.