Hamburg. Der schillernde Kapitän und der zuverlässige Torwart des FC St. Pauli begehen ein Jubiläum. Ihre Geschichte und was Begleiter sagen.
Der Kerl mit dem Pferdeschwanz und markanten Schnauzbart wirkte spindeldürr. Dementsprechend schlabberte der graue Kapuzenpulli, der ihm fürs offizielle Foto schnell noch übergestülpt worden war. „Der FC St. Pauli verpflichtet Jackson Irvine“, lautete die schnöde Überschrift der Pressemitteilung, die der Kiezclub am 5. Juli 2021 um 18 Uhr verschickte.
Wer den Hamburgern da ablösefrei (!) ins Netz gegangen war, wussten damals nur Insider. Fußballerisch war der australische Nationalspieler kein unbeschriebenes Blatt, aber in Deutschland weitgehend unbekannt. Menschlich gab es einen ganz kleinen Anhaltspunkt, der zum Frohlocken anregte. „Der Verein und seine Werte passen perfekt zu mir“, wurde Irvine in der besagten Mitteilung zitiert. Selten waren solche häufig wertlos dahingesagten Worte zutreffender.
Jackson Irvine und Nikola Vasilj vor ihrem 100. Pflichtspiel für den FC St. Pauli
Schon eine Woche später machte Irvine erstmals deutlich, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Proaktiv nutzte er ein Pressegespräch, um seine Stimme gegen die rassistische Hetze zu erheben, die dunkelhäutige englische Nationalspieler kurz zuvor nach dem verlorenen EM-Finale über sich ergehen lassen mussten: „Sowas darf nicht toleriert werden, es ist schrecklich.“
Alles andere als schrecklich war, was in den nächsten drei Jahren folgte. Für Irvine, für den FC St. Pauli, für den Kiez und alle, die es mit dem Club halten. Der 29. August 2021 markiert einen weiteren Meilenstein, als Irvine in der letzten Minute der Partie gegen Jahn Regensburg (2:0) erstmalig eingewechselt wird. Am Sonntag (15.30 Uhr) folgt beim FC Augsburg aller Voraussicht nach das 100. Pflichtspiel im braun-weißen Trikot für den inzwischen 31-Jährigen, der längst nicht mehr als nur ein dünner Bartträger ist, sondern Kapitän und Lichtgestalt. Aber dazu später mehr.
Sportchef Andreas Bornemann: „Sie haben Anteil daran, ihr Jubiläum in der Bundesliga zu feiern“
Das Besondere an diesem Jubiläum ist, dass Irvine es nicht allein begehen wird. Neben ihm wird auch Nikola Vasilj in den Club der Hunderter bei St. Pauli aufgenommen. Und wie Irvine ist auch der 28-Jährige längst mehr als nur Torwart. „Niko ist unser großer Rückhalt, immer“, sagt Außenverteidiger Philipp Treu über den Bosnier, der in 99 Partien 29-mal die weiße Weste behielt und alle Ruhe der Welt auf seine Kollegen ausstrahlt.
„Dass Jackson und Niko auf dem Weg zum 100. Pflichtspiel bei uns kaum eine Partie ausgelassen haben, unterstreicht ihre große Bedeutung für unser Team. Damit haben beide selbst großen Anteil an der positiven Entwicklung der vergangenen Jahre, mit dem Ergebnis, dass sie ihr Jubiläum nun in der Bundesliga feiern dürfen. Dazu möchte ich auch im Namen des FC St. Pauli herzlich gratulieren“, sagt Sportchef Andreas Bornemann, der hinter den Transfers des Duos steckt.
Irvine, der Fußball-Punk mit pinken Haaren und lackierten Fingernägeln
Irvine und Vasilj – zwei Spielerpersönlichkeiten, die für vieles stehen, was ihren Verein ausmacht: Erfolg, Verlässlichkeit, menschliche Größe und charakterliche Vielfalt.
Das macht dieses Jubiläum besonders schön. Da ist Irvine, der nach Heimspielen im Jolly Roger ein Bier trinkt, sich die Haare pink färbt, die Fingernägel lackiert und eine wandelnde Werbetafel für sein Tattoostudio ist. Ein Fußball-Punk, der mit dem Bus zum Training fährt und wirklich nie, nie, nie davor zurückschreckt, sich für die Belange Schwächerer einzusetzen. „Jackson ist eine absolute Legende, eine Ikone“, sagt Treu und übertreibt mit diesem inflationär genutzten Begriff nicht einmal.
Cheers! St.-Pauli-Legende Holger Stanislawski gratuliert
Der Wert Irvines reicht weit über das Spielfeld hinaus. „Wir hatten in jeder Truppe extravagante Typen. Ich denke, Jackson ich auch so ein Kandidat“, sagt Holger Stanislawski von Vereinslegende zu Vereinslegende. „Er hat gerade im letzten Jahr eine herausragende Rolle gespielt und diese Mannschaft damit zur besten der Zweiten Liga gemacht. Ich gratuliere ganz herzlich zum Jubiläum. Cheers!“
Wäre Stanislawski des Bosnischen mächtig, er hätte ein „Živjeli“ hinterhergeschickt. Denn der Beitrag von Vasilj in den vorangegangenen 99 Begegnungen ist herausragend gewesen. Auch damit war nicht unbedingt zu rechnen, als der freundlich-zurückhaltende 1,93-Meter-Mann am 25. Juli 2021 gegen Holstein Kiel sein St.-Pauli-Debüt – stilecht zu null (3:0) – absolvierte.
Vasilj, der zurückhaltende Ruhepol mit der weißen Weste
Bornemann hatte ihn aus der Ukraine von Sorja Luhansk geholt, kannte ihn bereits vom 1. FC Nürnberg, wo Vasilj in der zweiten Mannschaft gespielt hatte. Zusammen mit Jakov Medic, der von 2021 bis 2023 am Millerntor sein Mitspieler werden sollte. „Seit ich ihn kenne, hat er eine unglaubliche Entwicklung genommen und mit St. Pauli das erreicht, was er und der Verein sich verdient haben, nämlich Bundesliga zu spielen“, sagt Medic, der seit dieser Saison beim Ligakonkurrenten VfL Bochum spielt und eine tiefe Freundschaft zu Vasilj pflegt.
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Der Kroate dürfte am Dienstagabend ehrfürchtig beobachtet haben, wie sein Kumpel als neue Nummer eins der bosnischen Nationalmannschaft beim 0:0 gegen Ungarn Großchance nach Großchance entschärfte und sich pünktlich zum 100. in Topform präsentiert. „Nikola hat uns in diesen Situationen gerettet“, sagte Bosniens Nationaltrainer Sergej Barbarez. Vor Vasilj verneigt sich selbst eine HSV-Ikone.