Hamburg. Der Innenverteidiger der Hamburger im exklusiven Gespräch über sein Heimatland Estland, dessen Eigenarten und einen Kulturschock.
Eines ist ungeprüft absolut sicher: Karol Mets muss ein verdammt bequemes Bett haben. Mit der Müdigkeit nach der Länderspielreise umzugehen, sei ja nun überhaupt kein Problem. „Ich bin Fußballer, müde bin ich seit zehn Jahren“, sagt der Kapitän der estnischen Nationalmannschaft. Anzusehen ist das dem 31-Jährigen allerdings nie. Egal, ob er nun den Abwehrchef beim FC St. Pauli in der Bundesliga mimt oder in Estland.
Auch am Sonntagabend wieder, als Mets 75 Prozent seiner Zweikämpfe gewann. Am Innenverteidiger lag das 0:3 in Schweden, zu dem der frühere St. Paulianer Viktor Gyökeres zwei Tore beitrug, nicht.
St. Paulis Karol Mets im Exklusivgespräch über Estland
Es war nach dem 0:1 gegen die Slowakei die zweite Niederlage zum Auftakt in die Gruppe C1 der Nations League, in die Estland gerade erst aus der D-Division aufgestiegen war. Noch nie qualifizierte sich der 124. der Weltrangliste für eine WM oder EM. Der größte Erfolg: Die Teilnahme an den Play-offs für die EM 2012, die gegen Irland verpasst wurde. Worum spielt man also, wenn es eigentlich nie etwas zu gewinnen gibt?
Die Antwort gibt Mets im Gespräch mit dem Abendblatt noch müheloser, als er Zweikämpfe gewinnt. Einerseits, weil die Frage falsch ist: Denn Estland gewinnt sehr wohl, erst im Juni zum zehnten Mal den Baltic-Cup der baltischen Staaten – mit Kapitän Mets als Matchwinner im Elfmeterschießen gegen Litauen. „Und andererseits, weil es uns allen als Gruppe enormen Spaß macht. Wir kennen uns teilweise schon sehr lange und sind sehr stolz darauf, Esten zu sein und unser Land zu vertreten.“
Estnische Weisheit: „Das beste Essen eines Esten ist ein anderer Este“
Was es heißt, ein Este zu sein, kann Mets auf durchaus humorvolle Weise erläutern. Erstens: extrem hart zu arbeiten. „Wenn ein Este erfolgreich ist, weißt du, er hat enorm viel dafür investiert.“ Zweitens: „Wir sind super kalt. Wenn du einen Witz erzählst, lachen wir nicht, sondern schmunzeln im besten Fall.“ Drittens: „Das beste Essen eines Esten ist ein anderer Este.“ Das soll bedeuten, dass sich die 1,3 Millionen Einwohner ausgesprochen gern vergleichen – im Familienkreis, mit den Nachbarn, beim Sport. „Manchmal ist es mir fast ein wenig zu viel, wir könnten uns mehr auf unsere erfolgreichen Gemeinsamkeiten konzentrieren“, sagt der 96-fache Nationalspieler.
Aus den sportlichen Vergleichen ging der Linksfuß schon sehr früh zumeist als Gewinner hervor. Geboren in der 17.000 Einwohner zählenden Hansestadt Viljandi war Mets zunächst Judoka, holte als Kind Silber und Bronze bei den nationalen Meisterschaften. Mit Fußball kam er erst später zufällig in Berührung. „Fußball ist der mit Abstand populärste Sport bei uns, am erfolgreichsten sind wir momentan aber im Basketball und Volleyball.“
Jeder Verein benötigt Zugriff auf drei unterschiedliche Plätze
Die besten Zeiten der Fußballer liegen eine Dekade zurück, die aktuelle, von Mets angeführte Nationalmannschaft befinde sich aber auf einem guten Weg. „Viele Spieler sind im Ausland aktiv. Das ist häufig die sinnvollste Lösung, um sich auf hohem Niveau zu verbessern“, sagt Mets. Zugleich zeigt dies das Problem der wenig kompetitiven estnischen Liga, die Platz 44 in der Uefa-Fünfjahreswertung belegt.
„Die Nachwuchsausbildung ist immer schwierig, weil Jugendtrainer nicht gut bezahlt werden und es dementsprechend zu wenig gibt“, sagt Mets, der seit 2015 im Ausland spielt. Wer noch in Estland aufläuft, verdient im Schnitt rund 3000 Euro netto pro Monat. Die Witterungsbedingungen des Ostseelandes sorgen für zusätzliche Schwierigkeiten. „Wir haben viele Indoor-Plätze, wo wir von Januar bis März trainieren. Bis zum Mai dann auf Kunstrasen, von da an auf Rasen“, sagt Mets. Jeder Club benötigt also Zugriff auf drei unterschiedliche Plätze. Infrastrukturell eine Herausforderung, die das gesamte Baltikum betrifft.
„Wir fühlen uns skandinavisch“: Estland hebt sich von Lettland und Litauen ab
Wer die drei baltischen Staaten besucht, was empfehlenswert ist, wird allerdings feststellen, dass es eben nicht einfach „das Baltikum“ gibt, sondern sich die Länder merklich unterscheiden. Insbesondere Estland hebt sich von den spürbar stärker durch russische Einflüsse geprägten Lettland und Litauen ab. „Wir fühlen uns mehr skandinavisch. Wenngleich es kulturell und geografisch größtenteils nicht zu Skandinavien zählt, schauen wir häufig zu Finnland auf“, sagt Mets.
In mindestens einer Beziehung ist Estland aber nicht nur Finnland weit voraus. Der vom Lebensstandard am weitesten entwickelte Baltenstaat gilt als digitalisiertestes Land Europas. „Zu Hause kann ich alles auf meinem Handy erledigen“, sagt Mets. Dementsprechend durchlitt der 1,90-Meter-Mann einen kleinen Kulturschock, als er Anfang 2023 nach Deutschland kam. „Ihr liebt Papier und Bürokratie. Das ist nicht besser oder schlechter als in Estland, aber gewöhnungsbedürftig“, sagt er.
Wie Mets nach der Rückkehr zu St. Pauli regenerieren möchte
In Hamburg hat sich Mets dagegen blendend integriert, er sieht gewisse Ähnlichkeiten zur estnischen Hauptstadt Tallinn, in die er nach seiner Karriere definitiv zurückkehren möchte. „Hamburg offeriert uns mehr, als wir wahrnehmen können“, sagt Mets. Mit „uns“ meint er seine Verlobte Kristi, die seit elf Jahren überall an seiner Seite ist. Familienzuwachs ist ausdrücklich erwünscht: „Wir debattieren über den richtigen Zeitpunkt, aber er dürfte eher früher als später kommen.“
- Hamburg will HSV und St. Pauli an Polizeikosten beteiligen
- FC St. Pauli: Linkskursiv-aktivistische Schrift, das sagen Abendblatt-Leser
- ETV Hamburg: So können Sie die neue Video-Doku über Eimsbüttel sehen
Nicht all zu spät kam Mets am Montag nach Hamburg zurück. Auf dem Plan stand Regeneration. Zum Physio, viel Wasser trinken, gesund essen, ein Eisbad – „und richtig lange schlafen“.