Hamburg. Tiefe Enttäuschung durch die neue Kartenvergabe. Andere zeigen sich begeistert. Die Gründe für die beiden Extreme.

Es könnte in Gifhorn gewesen sein. Glaubt Stephan Bartels zumindest. Genau weiß er es aber nicht mehr. Jedenfalls war er verliebt, damals im Winter 1983. Ihr Name? Auch den hat der damals 16-Jährige vergessen. Was viel mehr zählt: Sie hat ihm seine ganz große Liebe vorgestellt. Ihn mitgenommen nach Gifhorn oder wo auch immer das war, Oberliga auf alle Fälle. Zum FC St. Pauli. Und dann war es um Bartels geschehen. „Nicht ich habe mir den Fußballclub meines Herzens ausgesucht, sondern er mich“, schrieb der freie Journalist dem Verein per Mail.

Fast 40 Jahre waren sie dann ein Paar. Bartels war Stammgast am Millerntor, fuhr 1991 „im Gepäcknetz des Sonderzugs zum Relegationsentscheidungsspiel gegen die Stuttgarter Kickers nach Gelsenkirchen“ und nach dem deprimierenden 1:3 „mit Hoffnung im Herzen“ wieder zurück. Auf- und Abstieg, Gegengerade, Last-Minute-Klassenerhalt. Das komplette Programm, mit der zweiten Dauerkarten für seinen Sohn als Krönung.

FC St. Pauli ändert Kartenvergabesystem: Frust und Freude bei Fans

2007 beging der heute 56-Jährige dann „einen der größten Fehler meines Lebens“. Weil die C-Jugendspiele seines Sohns häufig gleichzeitig zu den Drittligapartien der Kiezkicker stattfanden, setzte er die Dauerkarten für eine Saison aus – und bekam sie anschließend nie wieder. Mit Saisonpaketen, die Tageskarten zu allen Heimspielen beinhalten, im Gegensatz zur Dauerkarte aber kein Vorkaufsrecht für die Folgesaison, konnte der Hamburger seiner Liebe seitdem trotzdem ganz nah sein.

Bis der FC St. Pauli das Kartenvergabesystem ab dieser Saison änderte und Bartels leer ausging. Er fühlt sich nun „vom Spielbetrieb ausgeschlossen“, ist tief enttäuscht, „nachdem ich mit dem Verein die wunderbarsten Dinge erlebt und durch tiefste Scheiße gewatet bin“.

Warteliste für Dauerkarten am Millerntor wird abgeschafft

Aus ihm spricht die Frustration eines Verlassenen, die er gewiss mit anderen ehemaligen Saisonpaketinhabern teilt. Doch der FC St. Pauli hatte aus Vereinssicht sehr gute Gründe, den Vergabeprozess zu modifizieren.

FC St. Pauli - 1. FC Heidenheim
Wenn der FC St. Pauli im Millerntor-Stadion spielt, will fast jeder dabei sein. © DPA Images | Gregor Fischer

Der sieht unter anderem vor, dass die Dauerkartenwarteliste abgeschafft worden ist. Dies war eine seit Jahren geschlossene Liste, darunter befanden sich Karteileichen; mitunter Personen mehrfach; und Fans, die anderweitig bereits mit dem begehrten Ticket ausgestattet worden sind. Zudem müsste ein Bewerber mittlerweile viele Jahre warten, ehe er auf der Liste weit genug nach vorn gerückt ist. Einem jüngeren Publikum war der Zugang ins Millerntor-Stadion damit erschwert, auch neuen Fans. Generell ist eine diversere Mischung auf den Rängen erwünscht. Fortan wird jährlich das Interesse an den rund 13.800 Dauerkarten digital bei den Besitzern abgefragt.

Langjähriger St.-Pauli-Fan enttäuscht: „Euer Stadion, eure Regeln“

Die 3500 Saisonpakete werden nicht mehr an Bestandskunden oder im freien Verkauf veräußert, sondern ausschließlich an Vereinsmitglieder vergeben, die mindestens ein Jahr Mitglied sein mussten. 

„Okay, ihr werdet sagen: Ihr habt doch nur die Zugangsregeln verändert, Chancen für alle und so, sollen doch auch mal andere … ja ja, alles klar, ich hab’s verstanden. Euer Stadion, eure Regeln“, schreibt Bartels. Beim neuen Vergabeprozess bezog der Kiezclub die Fanszene, explizit nicht nur die Ultras, in die Ideenfindung ein. „Der FC St. Pauli steht in einem fortlaufenden und sehr konstruktiven Austausch mit diversen Fangruppen und Gremien, um eine möglichst gerechte Vergabe der Tickets zu erreichen. Das Grundproblem bleibt aber immer gleich, unabhängig vom Prozedere: Es gibt zu wenig Karten für eine sehr große Nachfrage“, sagt Vereinssprecher Patrick Gensing.

Vereinssprecher Patrick Gensing: „Wir erleben auch freudige Nachrichten von Fans“

Erarbeitet wurde ein System, durch das Dauerkartenbewerber unter bestimmten Voraussetzungen bessere Chancen erhalten können. Ehrenamtliche Tätigkeiten beispielsweise erhöhen die Wahrscheinlichkeit. Garantien gibt es keine. Kartenvergabe ist eine Verwaltung von Defiziten.

Fussball
St. Paulis Pressesprecher Patrick Gensing (50/l.), hier mit Cheftrainer Alexander Blessin (51), nimmt auch viele positive Rückmeldungen auf das veränderte Vergabesystem wahr. © Witters | Ottmar Winter

„Wir verstehen die Enttäuschung von Fans, die bei der Vergabe von Tickets leer ausgehen. Gleichzeitig erleben wir auch freudige Nachrichten von Fans, die nun endlich auch mal Spiele am Millerntor miterleben können. Wir würden liebend gerne alle ins Stadion lassen – allein: Die Kapazität des Millerntors und die große Nachfrage lassen dies nicht zu“, sagt Gensing.

Losverfahren würde für höheren Aufwand sorgen

Noch gar nicht erwähnt ist an dieser Stelle die Problematik der rund 3000 Tageskarten für Heimspiele, die im freien Verkauf zumeist binnen kürzester Zeit vergriffen sind. Wäre hier eine Verlosung vorstellbar? Der FC St. Pauli zeigt sich offen für die Diskussion, hat dieses Thema jedoch noch nicht auf der Agenda. Der Aufwand, den ein solches Verfahren mit sich führen würde, wäre enorm.

Die Mitarbeiter im Ticketing versuchen, „mit sehr viel Engagement, die Kartenvergabe so fair wie möglich zu gestalten. Ihr Engagement ist besonders hervorzuheben“, betont Gensing. Bei allem Frust, so verständlich dieser sein mag, appelliert der 50-Jährige, diesen nicht an den Kollegen auszulassen. „Zudem danken wir allen Fans, die sich konstruktiv einbringen und wertvolles Feedback geben, damit wir gemeinsam bestmögliche Lösungen finden“, sagt Gensing.

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Bartels wird das egal sein. St. Pauli soll seinen Ärger zu spüren bekommen. „Da müsst ihr jetzt durch. Enttäuschte Liebe soll ruhig auch dem weh tun, der Schluss gemacht hat. Und das habt ihr nun mal. Leider“, schreibt er. 40 Jahre nach Gifhorn ist die Liebe schwer enttäuscht worden.