Hamburg. Harte gegenseitige Vorwürfe nach Ausschreitungen rund um das Spiel des FC St. Pauli gegen Hannover. Was eine Lösung so schwer macht.
Auch am Sonntag waren die Gewaltexzesse während des Zweitligaspiels des FC St. Pauli gegen Hannover 96 (0:0) im Gästefanblock des Millerntor-Stadions und später auf den umliegenden Straßen ein heiß diskutiertes Thema. Im Mittelpunkt steht dabei weiterhin die Frage, wer eigentlich wirklich der Verursacher dafür war, dass die Situation derart eskalierte und am Ende eine mutmaßlich dreistellige Zahl von Verletzten zu notieren ist. Inzwischen hat auch der DFB Ermittlungen aufgenommen.
Die Aufarbeitung und Bewertung der Geschehnisse, die am Freitagabend gegen 20 Uhr auf der Nordtribüne begannen, hat dabei bisher vor allem schwere gegenseitige Vorwürfe von Vertretern der Polizei und Fangruppen hervorgerufen. Die Intensität dieser verbalen Schlammschlacht wirkt dabei in Teilen noch heftiger als die körperlichen Auseinandersetzungen auf der Nordtribüne. Mittendrin steht dabei der FC St. Pauli, der händeringend um Sachlichkeit bemüht ist und Kritik an beiden Seiten übt.
Nach St.-Pauli-Spiel: Fanhilfe Hannover beklagt „Polizeigewalt“
Während die Fanhilfe Hannover in ihrer Stellungnahme von „Polizeigewalt“ spricht, die sie „in ihrem kompletten Ausmaß noch gar nicht überblicken“ könne, sagte Klemens Burzlaff von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG): „Diese Täter sind keine Fußballfans, sondern kriminelle Gewalttäter, die den Fußball als Ventil benutzen, um ihre Gewaltbereitschaft und ihren Hass auszuleben.“
Nach bisherigen Erkenntnissen habe bei den zunächst internen Auseinandersetzungen unter Fans von Hannover 96 im Gästeblock auf der Nordtribüne ein Mann am Boden gelegen und sei weiter attackiert worden. Erste Gerüchte besagten, dies sei ein St.-Pauli-Fan gewesen, der eine Fahne entwendet habe. Dies hat sich nicht bestätigt. „Vorliegende Videoaufnahmen sprechen aber nicht dafür, dass die Gerüchte von einem Fahnenklau durch einen FC-St.-Pauli-Fan zutreffend sind“, teilte der FC St. Pauli in seiner Stellungnahme zu den Ereignissen mit.
Tritte gegen Polizisten, Schlagstockeinsatz gegen Fans
Da aber für die am Boden liegende Person „Gefahr für Leib und Leben bestand“, sei es notwendig gewesen, dass die Einsatzkräfte zunächst über das sogenannte Mundloch im Stehplatzbereich der Nordtribüne auf die Ränge vorrücken, um die Auseinandersetzungen zu beenden, hieß es vonseiten der Polizei. Beantwortet wurde dieser Einsatz mit einer erheblichen körperlichen Gegenwehr von einigen sich in diesem Bereich aufhaltenden Anhänger von Hannover 96. Schläge mit Fäusten und Fahnenstangen sowie Tritte zum Teil gegen den Kopf waren dabei zu beobachten. Die Polizisten wehrten sich vor allem mit dem Einsatz ihrer Schlagstöcke und mit Pfefferspray.
„Im Vorfeld kam es im Block zu Unstimmigkeiten zwischen zwei kleinen Gruppen an 96-Fans. Wie es in solchen Fällen im Fußballkontext üblich ist, halfen umstehende 96er, um die Situation schnell wieder zu beruhigen. Daraufhin entspannte sich die Lage wieder. Nach Rücksprache mit mehreren Augenzeugen und den betroffenen Personen selbst widersprechen wir den getätigten Aussagen der Polizei Hamburg, dass ein Eingreifen zu irgendeinem Zeitpunkt notwendig war, um ,Schlimmeres zu verhindern‘“, schreibt unterdessen die Fanhilfe Hannover in ihrer Stellungnahme. Und weiter: „Nach unseren Informationen gab auch der eingesetzte Ordnungsdienst eine entsprechende Einschätzung an die Polizei weiter, dass die Situation im Griff sei und ein Eingreifen zu keinem Zeitpunkt nötig erschien.“
Fans beklagen „wahllosen Einsatz von Pfefferspray“
Einzelne Personen aus dem Gästeblock kletterten derweil über den Zaun in den Innenraum. Von den Ereignissen blieb auch das zunächst noch laufende Spielgeschehen auf dem Feld nicht unberührt. „Es ist ja auch menschlich, wenn zwei Meter neben Niko ein Fan auftaucht, dass er sich umdreht und schaut, was da passiert. Genauso bei den Innenverteidigern“, sagte später St. Paulis Trainer Fabian Hürzeler.
Der umsichtige Schiedsrichter Richard Hempel (Großnaundorf) unterbrach dann das Spiel, als Hannover auf der Seite der Nordtribüne einen Eckball ausführen sollte. Kurz danach wies er die Spieler an, sich aus diesem Bereich in Richtung der eigenen Ersatzbänke vor der Gegengerade zu begeben. Nach knapp fünf Minuten konnte das Spiel fortgesetzt werden.
Unterdessen kommentiert die Fanhilfe Hannover weiter: „Obwohl die Situation bereits geklärt war, entgegengesetzt der Lageeinschätzung der Ordnungskräfte vor dem Block, entschied sich die Polizei mit Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) den prall gefüllten Gästeblock durch einen Blockeingang zu stürmen, um sich anschließend unter wahllosem, massivem Einsatz von Reizgas zunächst Platz zu verschaffen, was bereits zahlreiche Verletzungen billigend in Kauf nahm.“
Gewerkschaftler Niens empört über „Diskreditierung der Polizei“
Weiter heißt es dort: „Weder die Fanbeauftragten oder Mitarbeiter des Fanprojekts wurden in irgendeiner Form in Kenntnis gesetzt, noch gab es Ansagen oder Androhungen seitens der Polizei im Vorfeld. Ohne Rücksicht auf Verluste und mit dem Wissen, dass derartige Einsätze innerhalb eines Fanblocks immer eine Eskalation mit nicht absehbaren Folgen zur Konsequenz haben. Zu keinem Zeitpunkt war das Ziel der eingesetzten Einheiten ersichtlich.“
Dagegen äußert sich Horst Niens, der Hamburger Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), äußerst empört über „den Versuch, der Polizei unnötige Gewalt vorzuwerfen“. Er sagte auf Abendblatt-Anfrage: „Fankurven sind keine rechtsfreien Räume. Wenn dort Menschen in Gefahr sind, muss die Polizei eingreifen. Und das sofort und ohne Wenn und Aber.“ Mit der Diskreditierung der Polizei würden Fangruppen von dem Versagen der Vereine ablenken, während sie selbst ein „Revierverhalten“ für sich proklamierten und auch an den Tag legten, das auch die Begehung von Straftaten einschließe.
FC St. Pauli verurteilt Gewalt gegen Polizei, aber auch deren Pfefferspray-Einsatz
Neben dem Einsatz im Fanblock sorgte vor allem aber für Kritik, dass eine weitere Einheit der Polizei von der Seite in den Innenraum stürmte und auf breiter Fläche die in den vorderen Reihen des Gästeblocks stehenden Zuschauer mit Pfefferspray attackierte. Hiervon waren überwiegend auch Personen betroffen, die zehn und mehr Meter von den eigentlichen Auseinandersetzungen entfernt standen.
Auch der FC St. Pauli kommentierte in seiner Stellungnahme speziell diese Aktion kritisch: „Für öffentliches Aufsehen sorgt zudem, dass die Polizei im Folgenden vom Innenraum des Stadions Pfefferspray gegen Fans von Hannover 96 einsetzte. Der Verein verurteilt den Vandalismus und die Gewalt im Gästeblock, sieht aber auch den Einsatz von Pfefferspray aus dem Innenraum sehr kritisch. Dadurch wurden Unbeteiligte verletzt, und es stellt sich die dringende Frage nach der Verhältnismäßigkeit, die unbedingt gewahrt bleiben muss.“
Fanhilfe Hannover spricht von „Gewaltorgie der Polizei“
Für die Fanhilfe Hannover ist die Frage der Verhältnismäßigkeit längst geklärt. Ein Sprecher dieser Organisation sagte: „Fassungslos blicken wir auf die gestrigen Geschehnisse. Mit Entsetzen fragen wir uns, wie überhaupt ein derartiger maximal unverhältnismäßiger Einsatz in einem ausverkauften, voll besetzten Block unter den gegebenen Umständen auch nur ansatzweise in Betracht gezogen werden kann und dann auch noch in dieser Art und Weise durchgeführt wird. Eine derartige Gewaltorgie seitens der Polizei bei Fußballspielen haben wir so noch nicht erlebt.“
Bei den Auseinandersetzungen im Stadion wurden nach Polizeiangaben fünf Beamte verletzt. Weitaus mehr sind es aufseiten der 96-Anhänger. „Berichte von schweren Verletzungen, welche im Krankenhaus behandelt werden mussten, oder Personen, die sich aktuell noch im Krankenhaus befinden, scheinen momentan nur die Spitze des Eisberges zu sein. Wir gehen von einer dreistelligen Anzahl an verletzten 96-Fans aus“, sagte derweil der Sprecher der Fanhilfe Hannover.
Noch während des Spiels hatten sich die insbesondere die Ultrafans des FC St. Pauli auf der Südtribüne mit den eigentlich rivalisierenden Hannoveranern solidarisiert, auch die Unterstützung für ihre eigene Mannschaft eingestellt und skandiert: „Ganz Hamburg hasst die Polizei.“
Steinwurf verursacht doppelten Beinbruch bei einem Polizisten
Nach dem Abpfiff des Spiels war es auf umliegenden Straßen zu weiteren Gewalttätigkeiten gekommen, an denen diesmal Anhänger des FC St. Pauli maßgeblich beteiligt waren. Hier wurden zwölf Polizisten verletzt. Im Bereich der Straße Beim Grünen Jäger wurde ein Bereitschaftspolizist von einem Stein getroffen und erlitt dabei einen Schienen- und Wadenbeinbruch, der operiert werden muss.
Bei diesen Auseinandersetzungen soll nach bisherigen Erkenntnissen die Fangruppe „Rotsport“ eine wesentliche Rolle gespielt haben. Die Mitglieder gelten als Linksextremisten, die sich gezielt mit Kampfsport für solche Auseinandersetzungen vorbereiten und den FC St. Pauli als Plattform nutzen. Sie hatten auch eine Rolle gespielt, als vor rund einem Jahr vor dem Stadtderby im Millerntor-Stadion der Fanmarsch der HSV-Anhänger attackiert werden sollte.
Polizeipräsident Schnabel: „Keine Fankultur, sondern Gewalttäter“
Hamburgs neuer Polizeipräsident Falk Schnabel sagte in seiner Stellungnahme zu den Ereignissen: „Für das Verhalten der Randalierer fehlt mir jedes Verständnis. Wir haben es hier nicht mit Fankultur zu tun, sondern mit Gewalttätern, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen.“
„Der FC St. Pauli verurteilt ausdrücklich den Angriff auf Polizistinnen und Polizisten nach dem Spiel im Viertel“, schrieb dazu auch der Millerntor-Club in seiner Stellungnahme. „Was von diesem Abend bleibt, sind verstörende Eindrücke, die Fußball- und Fankultur schwer beschädigen und hoffentlich nicht zu weiteren Eskalationen führen. Alle beteiligten Parteien sind angehalten zu deeskalieren“, kommentierte Präsident Oke Göttlich das Geschehen während des Spiels und danach. Der Verein werde „über Konsequenzen beraten müssen, um weiteren Schaden von Menschen und Verein abzuwenden“.
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Wie diese aussehen, bleibt vorerst offen. Für den ersten stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Burzlaff steht fest, dass die Vereine zu wenig oder gar keinen Einfluss auf gewaltbereite Fangruppen haben. „Das scheint da völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein“, so Burzlaff, der auch bezweifelt, dass man solche „Fans“ noch sozialisieren könne. „Hier helfen weder Fanprojekte noch Appelle“, sagte Burzlaff dem Abendblatt. „Ganz im Gegenteil, jetzt müssen die Strafverfolgungsbehörden klare Kante zeigen und dem Rechtsstaat Geltung verschaffen.“
Wenig Hoffnung hat grundsätzlich auch Fanvertreter Dario Minden vom Bündnis „Unsere Kurve“. „Die Situation ist festgefahren, eine Lösung in einer Art Fan-Polizei-Dialog ist leider realitätsfern“, sagte er jetzt auf dpa-Anfrage. „Auf Fanseite gibt es gar nicht die Vertretungsstrukturen und sicherlich oft auch überhaupt kein Interesse an einem Dialog, während auf der anderen Seite eine Polizei steht, die oft rechtswidrig handelt.“
Fanforscher beklagt: „Situation ist eher schlimmer geworden“
Für Fanforscher Jonas Gabler hat sich der Konflikt in den vergangenen Jahren zugespitzt: „Es ist nicht besser, sondern eher schlimmer geworden“, hatte er schon im März gesagt. Fanvertreter Minden sagt: „Gewalt bei Fußballspielen ist ein vielschichtiges Problem, bei dem es keine einfachen Lösungen gibt. Leider bekommt man als aktiver Fußballfan oft das Gefühl, dass die Polizei hier nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems auftritt.“