Rio de Janeiro. Dem Iren Michael Conlan ist nach seinem umstrittenen Aus vor laufender Kamera der Kragen geplatzt. Weltverband reagiert.
Michael Conlan streckte den Punktrichtern hasserfüllt beide Mittelfinger entgegen, Bluts- und Schweißtropfen rannen über sein Olympia-Tattoo. Dann verließ der irische Bantamgewichtler erzürnt den Ring und gab ein Live-Interview, das den ohnehin verrufenen olympischen Boxsport erschütterte.
"Sie sind verdammte Betrüger! Sie kaufen jeden. Es ist mir scheißegal, dass ich im Fernsehen fluche", wetterte der 24-Jährige bei RTÉ Sport, einem Nachrichtensender aus seiner Heimat, nach seiner einstimmigen Punkte-Niederlage im Olympia-Viertelfinale gegen den Russen Wladimir Nikitin.
In seiner messerscharfen Attacke auf den Weltverband AIBA war der Olympiadritte von London überhaupt nicht mehr aufzuhalten: "Das sind betrügerische Bastarde!", sagte er, die Worte beinahe ausspuckend, "es ist bekannt, dass sie Betrüger sind. Sie werden immer Betrüger sein. Das Amateurboxen stinkt von der Basis bis zur Spitze."
Coman erhebt Korruptionsvorwürfe
Conlan, 24, Irlands erster Amateur-Weltmeister, hatte verloren, obwohl sein Gegner verbeult und blutverschmiert den Ring verließ. "Ich war im ersten Gang und habe ihm die Ohren abgeboxt. Habt ihr sein Gesicht gesehen? Er hatte überall Cuts", sagte Conlan über Nikitin.
Für den Mann aus Belfast war die Sache klar: Der Sieg des Russen wurde bei den "korrupten Punktrichtern" gekauft. Von höchster Stelle? "Hey, Wlad", schrieb Conlan bei Twitter an den Account des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin: "Was haben sie Dir berechnet, Bruder?"
Zudem kündigte er an, "nie wieder" unter AIBA-Regie zu boxen. "Es ist ein Trümmerhaufen. Mein Traum ist zerstört, ich bin in meinem tiefsten Herzen auch zerstört", sagte er in dem 90-sekündigen Interview. "Ich denke, das Boxen ist tot! Es geht nur darum, wer mehr Geld bezahlt. Wer den größten Einfluss hat, gewinnt."
Weltverband räumt indirekt Fehlurteile ein
Die AIBA reagierte im Angesicht weiterer Manipulationsvorwürfe beispielsweise aus dem US-Team kühl. "Meine Erfahrung ist: Wenn ein Boxer verliert, ist er niemals glücklich", sagte ein Sprecher lapidar. "Er sieht die Schuld dann niemals bei sich selbst, sondern immer nur bei der Organisation." Die Punkt- und Ringrichter seien gewissenhaft ausgewählt und geschult: "Grundlose Anschuldigungen können wir nicht akzeptieren."
Dennoch hatte die AIBA offenkundig ein schlechtes Gewissen. Am Mittwoch räumte sie indirekt Fehlurteile ein. Eine Überprüfung aller bis dahin ausgetragen 239 Kämpfe habe ergeben, dass "weniger als eine Handvoll der Entscheidungen nicht dem erwarteten Niveau" entsprochen habe. Die betroffenen Ring- und Punktrichter würden für den Rest der Spiele nicht mehr eingesetzt, ihre Urteile aber selbstverständlich bestehen bleiben.
Conlan beruhigt sich dank Töchterchen
Zuvor hatte sich schon Irlands Goldhoffnung Katie Taylor betrogen gefühlt, ebenso der Kasache Wassili Lewit, der nach einem überlegenen Finalkampf gegen den Russen Jewgeni Tischtschenko zum Verlierer erklärt worden war. Tischtschenko wurde von 9000 Zuschauern niedergebuht.
Immerhin: Zumindest Conlan hatte sich nach einigen Stunden halbwegs beruhigt. Er hielt seine kleine Tochter Luisne auf dem Arm, er umarmte seine Frau und lachte in die Kamera. Dazu schrieb er: "Wenn der Staub sich legt, ist alles, was zählt, die Familie." Dahinter setzte er ein Herzchen.
Eine rührende Geste kam derweil auch von einem kleinen Fan. Ein fünf Jahre alter Junge bot Conlan nach dessen Niederlage seine eigene Medaille an, die er in der Schule gewonnen hatte. "Ich habe Sie in Rio kämpfen sehen und finde, Sie haben es verdient", schrieb der junge Anhänger in einem Brief, den seine Tante bei Twitter veröffentlichte. Conlan reagierte prompt: "Wen irgendjemand weiß, wer das ist, sagt ihm, ich habe ein Geschenk für ihn", schrieb er.