Diskuswerfer Robert Harting ist heute Abend der große Favorit auf Gold. Der Hamburger Markus Münch scheitert erneut in der Qualifikation.
London. Die Sache mit dem Bett im olympischen Dorf zum Beispiel. Schöne Bettwäsche, ja, klar, sagt Robert Harting ironisch, nur die Matratze, die ist 30 Zentimeter kürzer als zu Hause. "Meine Füße haben fast Bodenkontakt." Aber aufregen darüber? Pfff, macht Harting da nur. "Das ist egal, einfach egal, weißte. Wenn einen das stört, dann verschwendet man Energie, schon am ersten Tag. Ich kann auch auf dem Boden schlafen."
Harting grinst. Er will keine neue Baustelle aufmachen in seiner Seele, davon gibt es eh schon genug. Der beste deutsche Diskuswerfer sieht aus wie von einem Panzer geschützt, wie er so dasteht im Bauch des Londoner Olympiastadions. Hinter dem Panzer jedoch ist er ein Grübler, immer schon gewesen. Wie ihm sein Wurf in der Qualifikation gestern Morgen gefallen hat? Es ist ja der einzige gewesen, 66,22 Meter sind ein Pfund, für das Finale langte das mehr als genug. Harting überlegt einen Moment. "War vielleicht ein bisschen vorsichtig. Vielleicht war der Wurf aber auch gut. Mein Trainer und ich sind da öfter mal verschiedener Meinung. Ich bin sehr zufrieden, dass es so geklappt hat."
Zufriedenheit. Damit verhält es sich bei Robert Harting ein bisschen so wie mit dem Esel und der Möhre. Er hechelt ihr hinterher, aber er erreicht sie nicht, oder allenfalls in flüchtigen Momenten. Harting ist ein Getriebener. Der Beste werden, der Beste sein, der Beste bleiben. Nach dieser Logik vollzieht sich sein Leben als Leistungssportler. So hat es der 27-Jährige zu einem der bekanntesten Gesichter der deutschen Leichtathletik gebracht. Er ist einer ihrer wenigen Stars.
Jetzt steht Robert "Shaggy" Harting in London kurz davor, einen letzten Makel in seiner beeindruckenden Vita als Diskuswerfer zu tilgen. Er kann Gold gewinnen, nein: Er soll es sogar, fast könnte man meinen, er muss, um nachher nicht unzufrieden zu sein. Wenn vor den Olympischen Spielen nach Deutschlands vermeintlich sichersten Goldmedaillen gefragt wurde, nannten die Leute den Ruder-Achter, die Reiter - und Robert Harting.
+++Schon wieder Blech! Spiegelburg verpasst Medaille +++
In 28 Wettkämpfen hintereinander ist er unbesiegt inzwischen, dem Weltmeistertitel 2011 aus Daegu fügte er im Juni 2012 auch noch in Helsinki den Europameistertitel hinzu. Mittlerweile ist er in der Lage, den Diskus auf berauschende Weiten über 70 Meter fliegen zu lassen. Sieben PS hat sein rechter Arm, fanden Forscher heraus. Vielleicht ist er gerade auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Schaffenskraft.
Harting hat darüber nachgedacht. "Sich selber baut man immer Druck auf, das ist ja nichts Neues. Aber der Druck von außen, der ist neu, definitiv. Ein komisches Gefühl", sagt er und wird beinahe philosophisch: "Es ist erdrückend, weil: Druck drückt meistens. Es ist aber auch ein positives Gefühl. Ich muss jetzt gucken, dass ich das gut kanalisiere, um nicht kaputtzugehen."
Heute Abend um 20.45 Uhr kommt es darauf an. Nie war die Bezeichnung Endkampf wohl zutreffender. Im proppevollen Olympiastadion wird Harting auf alte Bekannte treffen: den Esten Gerd Kanter zum Beispiel, den Besten der Qualifikation, den Polen Piotr Malachowski , der ihn bei der EM 2010 in Barcelona als einer der Letzten besiegte, oder den Litauer Virgilius Alekna, der in der Qualifikation so seine Mühen hatte. Harting versucht, sein positives Gefühl aus der Qualifikation von gestern Vormittag mit herüberzuretten. "Stadion geil, Leute geil, Ring gut. Mal sehen, wie er ist, wenn's regnet", sagt er, und: "Ich hoffe nur, es regnet nicht."
Bis zu dem Abend, der heute seiner werden soll, wird Robert Harting den Fernseher wohl ausgeschaltet lassen. "Wenn ich Fernsehen gucke, dann vermeide ich Leichtathletik. Und wenn ich Leichtathletik gucke, dann ohne Ton", sagt er. "Ist sonst zu viel Adrenalinverschwendung." Und von Adrenalin kann er nie genug haben.
Der Gegenentwurf zu Harting ist irgendwie Markus Münch von der LG Wedel/Pinneberg, mit 128 Kilo Lebendgewicht kräftiger und mit 2,07 Meter Größe mächtiger noch als der Weltmeister (2,01 m/126 kg), aber irgendwie doch viel zarter besaitet. Für den 26-Jährigen stellt schon die Qualifikation eine Hürde dar, die er kaum in der Lage zu meistern ist. Mit 59,95 Meter blieb Münch auch in London weit unter seinen Möglichkeiten, die er in Potsdam bei den Übungseinheiten mit Bundestrainer und Weltrekordler (74,08 m) Jürgen Schult, 52, immer wieder andeutet. Münch, persönliche Bestweite: 66,87 Meter, schied vorzeitig aus wie zuvor bei den Weltmeisterschaften 2009 in Berlin und 2011 in Daegu und bei der Europameisterschaft 2010 in Barcelona. Allein vor fünf Wochen überstand er bei der EM in Helsinki die Vorprüfung eines internationalen Titelkampfes. Im Finale wurde er Neunter.
"Ich habe nicht genug Kraft auf den Diskus gebracht", sagte Münch in London. Das klang zunächst nach einem technischen Problem. Seit zwei Jahren versucht Schult Münchs Abwurf zu verbessern. Im Training beherrscht Münch die neue Technik, unter Stress fällt er jedoch oft in alte Muster zurück. Und ein Wettkampf vor 80 000 Menschen ist für einen wie Münch Stress. Münch möchte nun die letzten Olympiatage genießen. An Bord der MS "Deutschland" wird er am kommenden Mittwoch nach Hamburg zurückkehren. Sein Ziel hat er nicht aufgegeben. 2016 in Rio will er erneut versuchen, das Olympiafinale im Diskuswerfen zu erreichen. Dann ist er 30. Das ist ein gutes Alter für Diskuswerfer.
Der Magdeburger Martin Wierig, 25, überstand mit 64,13 Meter ebenfalls die Qualifikation.