Hamburg. Die Nationalmannschaft brauchte den „Tiefpunkt aller Tiefpunkte“, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die benötigt jetzt auch der HSV.
Ein gutes Jahr ist es her, als Fußball-Deutschland komplett am Boden lag. Erst ein 2:3 der DFB-Auswahl in Berlin gegen die Türkei, dann ein dramatisch schlechtes 0:2 in Wien gegen Österreich. Ein halbes Jahr vor der Heim-Europameisterschaft schimpfte DFB-Sportdirektor Rudi Völler über den „Tiefpunkt aller Tiefpunkte“: „Wir können uns das nicht gefallen lassen.“ Und Rudi Nationale wütete weiter: „Vielleicht liegt es an den Spielertypen“, vermutete Völler. Möglicherweise habe sich die Mannschaft nach den ersten guten Spielen unter Bundestrainer Julian Nagelsmann „ein bisschen gesonnt und ausgeruht“.
Der angesprochene Nagelsmann kam noch am selben Abend um kurz vor Mitternacht zu einer ähnlichen Analyse. Im Presseraum des Ernst-Happel-Stadions versuchte der damals 36-Jährige zu erklären, woran es liege, dass Deutschland zwar einige Weltklasse-Einzelspieler habe, aber von der Weltspitze mittlerweile weit entfernt ist: „Ich habe schon das Gefühl, dass wir noch zu viele Einzelkämpfer sind. Jeder ist mit sich beschäftigt.“
Nagelsmann zog die richtigen Schlüsse. Und der HSV?
Die Sätze waren hart – und mit einem Jahr Abstand gelten sie heute als der Beginn von etwas Großem. Denn Nagelsmann und Völler nahmen die beiden bitteren Pleiten gegen die Türkei und Österreich zum Anlass, um rechtzeitig vor der Heim-EM den Kader noch einmal komplett auf links zu drehen. Die wichtigste Erkenntnis: Nicht die besten Einzelspieler sollten spielen, sondern die beste Mannschaft. Er brauche mehr „Worker“, sagte Nagelsmann auf Neudeutsch. Weniger Leroy Sanés, mehr Robert Andrichs.
Auch Stefan Kuntz, seinerzeit noch TV-Experte, teilte die Analyse von Nagelsmann und Völler: Deutsche Mannschaften hätten früher „nie aufgegeben, die waren defensiv stark, und dann kamen auch noch fußballerische Highlights dazu. Aus dieser Aufzählung fehlen mir ein paar Sachen“, sagte Kuntz nach dem Türkei-Österreich-Debakel. Es gehe um „simple Mittel, die schon immer im Fußball gelten“, ergänzte Kuntz und nannte „Leidenschaft, Laufbereitschaft, Identifikation, Emotionalität“.
Knapp 13 Monate später könnte Kuntz das Gleiche noch einmal sagen. Diesmal aber nicht über die Nationalmannschaft, sondern über den HSV. Und nicht als TV-Experte, sondern als Sportvorstand. Sein HSV erlebte am vergangenen Wochenende gegen Zweitligazwerg Ulm so etwas wie den „Tiefpunkt aller Tiefpunkte“. Kein Torschuss in der ersten Halbzeit, was dem HSV in den mittlerweile sechseinhalb Jahren in der Zweiten Liga noch nie passiert ist. Und: Die schlechteste Platzierung zu diesem Zeitpunkt in der HSV-Zweitligageschichte.
Ein Spiel (gegen Greuther Fürth) vor der Winterpause ist schon jetzt klar: Auch Kuntz‘ HSV braucht im Winter eine Radikalkur. Dabei müssen sich die Verantwortlichen viele unbequeme Fragen stellen. Die wichtigste: Wer soll diesen HSV in der Rückrunde trainieren? Kuntz lag im Sommer falsch, als er Steffen Baumgart nach der schwachen Rückrunde eine zweite Chance einräumte. Nun muss er bei seiner Entscheidung, ob Merlin Polzin der Richtige ist, besser liegen.
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Doch die Entscheidung über den Trainer ist beim HSV im Winter nur eine von vielen. Auch bei der Kaderzusammenstellung wurden im Sommer einige kostspielige Fehler gemacht, die nun nicht alle behoben werden können. Doch auch dem HSV könnten in der Zweiten Liga mehr Andrichs (und weniger Sanés) guttun. Mehr Elfadlis und weniger Richters. Oder wie Kuntz es ausdrücken würde: „Leidenschaft, Laufbereitschaft, Identifikation, Emotionalität“.
Verantwortlich für diesen Kader ist neben Kuntz natürlich auch Sportdirektor Claus Costa. Er lag in der Vergangenheit zu oft zu sehr daneben. Es wurde zu viel Geld für zu viele Mitläufer ausgegeben. Nun will Kuntz im Winter die Frage stellen, ob der HSV zur Unterstützung einen Technischen Direktor braucht. Diesen hat der Aufsichtsrat übrigens unter Kuntz-Vorgänger Jonas Boldt abgelehnt.
Dem HSV fehlt ein Julian Nagelsmann
Einen Technischen Direktor brauchte die Nationalmannschaft vor der begeisternden Heim-EM nicht. Denn Nagelsmann schaffte es bei der DFB-Auswahl, nach den schmerzhaften Pleiten gegen die Türkei und Österreich rechtzeitig im vergangenen Winter die Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Genau dies kommt nun auch auf den HSV zu, der allerdings einen entscheidenden Nachteil gegenüber der Nationalmannschaft hat: Es fehlt ein Julian Nagelsmann.
Oder mit anderen Worten: Kann Polzin Nagelsmann? Ob der HSV nach dem Hinrundenfinale gegen Fürth überhaupt noch einen Trainer hat, muss zunächst einmal Stefan Kuntz entscheiden. Nicht als TV-Experte. Sondern als Vorstand des HSV. Rudi Völler würde wohl sagen: Wenn man am Boden liegt, dann muss man wieder aufstehen.