Hamburg. Der Interims-Co-Trainer und Sportliche Leiter am Campus spricht über seine Verbindung zu Merlin Polzin und seine Vision im Volkspark.
Loic Favé sitzt gerade auf der Geschäftsstelle im Volksparkstadion, als Steffen Baumgart plötzlich hinter ihm steht und aufmerksam zuhört. „Sprich ruhig weiter“, sagt Baumgart und lacht. Eine Woche ist es her, dass Favé (31) noch als U-21-Trainer dem Abendblatt ein Interview gegeben hat und sich auch positiv über die Zusammenarbeit mit Proficoach Baumgart äußerte. Nur drei Tage später sitzt Favé zusammen mit Merlin Polzin und plant selbst die Aufgaben von Baumgart, der nach dem 2:2 gegen Schalke entlassen wurde. In diesem Interview spricht Favé daher nicht über seine Pläne als Interims-Co-Trainer für das Spiel am Sonntag beim KSC, sondern seine Visionen als Sportlicher Leiter im HSV-Nachwuchs.
Herr Favé, Sie sind seit Januar Sportlicher Leiter im HSV-Nachwuchs, dazu seit Sommer Trainer der U21, arbeiten gleichzeitig für die Profis und machen nebenbei Ihre Pro Lizenz. Wie geht das alles?
Es ist im Moment schon sehr intensiv, vor allem durch den Lehrgang. Da wird sicherlich viel mehr Zeit für den HSV frei, wenn die Abschlussprüfung in der kommenden Woche hinter mir liegt. Am Ende geht es aber immer nur in einem großen Team.
Auch Merlin Polzin absolviert gerade den DFB-Lehrgang. Bilden Sie eine Fahrgemeinschaft?
Ja. Das ist cool und tatsächlich auch witzig, weil wir uns schon lange kennen und im Nachwuchs als Trainer schon gegeneinander gespielt haben mit dem ETV und Osnabrück. Wir haben immer Kontakt gehalten. Es ist immer schön, wenn man jemanden hat, mit dem man diese Reisen machen kann.
Sie haben als NLZ-Leiter die Nachwuchsarbeit beim HSV reformiert. Was genau haben Sie verändert?
Wir haben uns an einer Struktur orientiert, die es im Ausland häufiger gibt, in Deutschland aber nicht so oft. Das heißt, dass ich als Sportlicher Leiter nicht für alle Aufgaben verantwortlich bin. Für mich steht die Trainertätigkeit im Vordergrund. Es ging darum, strategisch zu gucken, welche Vision wir im Nachwuchs haben und wie wir mit den Trainern das Konzept umsetzen können.
Wie sieht das Konzept konkret aus?
Das Wichtigste ist die Kultur, die wir Schritt für Schritt weiter aufbauen wollen. Wir betiteln sie als „high challenge, high support“. Auf der einen Seite eine enge Beziehung zu den Kindern und den Spielern aufzubauen, aber sie auch extrem zu fordern und einen hohen Anspruch zu haben. Die größte und sichtbarste Veränderung ist das intensivere Training. Zudem haben wir X-Faktoren für die Spieler entwickelt. Dabei geht es um die Frage: Was kann ein Spieler richtig gut? Profi wirst du durch deine besonderen Stärken. Wir wollen den Spielern die Überzeugung dafür geben. Gleichzeitig erwarten wir, dass die Jungs mehr Verantwortung übernehmen.
Sie orientieren sich dabei stark an Olympique Lyon. Wie kommt das?
Ich wollte nach meiner Zeit bei St. Pauli sehen, wie andere Profitrainer arbeiten und was andere Vereine machen. Ich habe die Hälfte der Ligue-1-Clubs in Frankreich besucht. Lyon hat mich einfach beeindruckt, weil man es dort geschafft hat, den Nachwuchs als Teil der Identität des Clubs zu integrieren. Da hängen nicht die Spieler an der Wand, die es zu den Profis geschafft haben, sondern nur die Weltmeister wie Benzema oder Tolisso. Der Verein hat mehr als 40 Spieler in die Top-5-Ligen Europas gebracht und 350 Millionen Euro durch Transfers eingenommen. Das sind Welten im Vergleich zu deutschen Clubs.
Wie genau schafft Lyon das?
Ein Beispiel ist meiner Meinung nach die Nettospielzeit im Training. Als ich hier im Januar angefangen bin, habe ich mit einer Stoppuhr die Spielzeiten gemessen. In Lyon waren es in einer Woche zwei Stunden mehr Spielzeit. Wenn du die Überzeugung hast, dass Spielformen am wichtigsten sind für die Entwicklung, ist das eine krasse Zahl. Gleiches gilt für die Trainingszeit. Du kannst aus 90 Minuten Training 80 Minuten herausholen oder nur 60. Und es gibt noch ein Beispiel.
Welches?
Lyon konzentriert sich bei der Suche nach Talenten auf die regionale Nähe. Das ist entscheidend auch für den HSV. Wir können durch die Jahre in der Zweiten Liga mit den Topclubs finanziell nicht mithalten, wenn teilweise das Dreifache geboten wird. Wir haben viele Talente verloren. Und das kann auch wieder passieren, gerade bei Jungs aus nicht so einfachen Familienverhältnissen. Was mir dabei wichtig ist: Viele Vereine haben durch ihre Erfahrungen gemerkt, dass die Wahrscheinlichkeit extrem sinkt, Profi zu werden, wenn ein Junge früh aus seinem Elternhaus und seiner Region rausgerissen wird. Es gibt dazu europäische Studien.
William Mikelbrencis kam mit 18 aus Metz zum HSV, konnte kein Deutsch und kein Englisch. Ist er ein Beispiel für einen zu frühen Wechsel?
Willi war jung, aber er hatte ja schon Profierfahrung. Es war kein einfacher Weg, aber kann auch den Vorteil haben, aus der Komfortzone rauszukommen. Es wird immer Gegenbeispiele geben, aber die meisten Fälle bestätigen die Studie. Ich habe mir das beim HSV angeschaut. Ein Beispiel ist Lenny Borges, der mit 18 aus der U19 zum AC Mailand gewechselt ist. Heute ist er vereinslos. Von diesen Verläufen gibt es leider viele. Wir kommunizieren den Jungs, den Eltern und den Beratern, dass es aus unserer Sicht Sinn ergibt, länger beim HSV zu bleiben. Wenn man es dann nicht schafft, kann man den Schritt später immer noch bei anderen Vereinen gehen, wie damals etwa Patrick Pfeiffer bei Darmstadt 98.
Ermedin Demirovic, der jetzt mit dem VfB Stuttgart in der Champions League spielt, hat kürzlich im Abendblatt gesagt, dass der HSV in der Jugend nicht an ihn geglaubt hat und er deswegen mit 16 zu RB Leipzig gewechselt sei. Wir kann man solche Fehleinschätzungen vermeiden?
Manchmal ist so eine Entscheidung genau das, was der Spieler gebraucht hat, um es über einen Umweg zu schaffen. Ich bin ein großer Fan davon, die Dinge mit Überzeugung zu machen und eine klare Einschätzung zu kommunizieren. Aber selbst für den besten Scout der Welt ist es schwierig, in jüngeren Jahren schon eine verbindliche Einschätzung abzugeben, ob man es irgendwann schafft. Da kommen noch so viele externe Faktoren dazu. Es wird daher immer wieder vorkommen, dass man mit seinen Entscheidungen danebenliegt und die Jungs woanders einschlagen. Trotzdem geht es darum, den Spieler so gut wie möglich zu kennen und nah dran zu sein, um wie bei Demirovic zu erkennen, dass er es mit seiner Mentalität schaffen kann.
Sie haben auch im Bereich der jüngsten Mannschaften Veränderungen vorgenommen.
Das ist korrekt. Wir haben kritisch hinterfragt, wer aus den Kinderperspektivteams schlussendlich am Campus spielt, und das waren leider nur sehr wenige. Demgegenüber standen aber teilweise zu viel Hektik, Unruhe und Enttäuschung bei Vereinen, Eltern und vor allem Spielern. Mit der neuen Struktur “Hamburg wächst” unterstützen wir stattdessen den Hamburger Amateurfußball und bauen eine bessere Verbindung zu den Entscheidungsträgern in den Vereinen auf. Darüber hinaus haben wir bei unserer Analyse in den vergangenen Monaten vermehrt festgestellt, dass Spieler, die zur U11 zu uns gewechselt sind, den Übergang in den U14/U15-Bereich aus Leistungsgründen leider nicht mehr geschafft haben. Das hat bei den Jungs logischerweise zu großer Enttäuschung geführt. Mit dem Start zur U12 ab der neuen Saison wollen wir den Spielern einfach noch ein Jahr mehr Zeit geben, um sich in ihrem gewohnten Umfeld bestmöglich zu entwickeln.
Zuletzt waren mit Fabio Baldé, Moritz Reimers und Louis Lemke drei HSV-Talente mit deutschen U-Nationalteams unterwegs. Sind Sie mit der Zahl zufrieden?
Für mich ist entscheidend, was am Ende passiert. Es bringt uns nichts, viele U-15-Nationalspieler zu haben, wenn der weitere Weg nicht gut verläuft und sie keine Profis werden. Eine Nominierung ist immer eine Auszeichnung. Das Beispiel Fabio Baldé zeigt aber: Vor ein paar Jahren wurden noch andere Spieler eingeladen, und jetzt ist er Profi.
Woher kommt eigentlich Ihre Verbindung nach Frankreich?
Meine Mutter Geneviève kommt aus der Bretagne, ist für das Studium und die Liebe nach Hamburg gezogen. Sie hat mit mir immer französisch gesprochen.
Sie hat 30 Jahre beim HSV für das Fanprojekt gearbeitet und wurde im März mit einer großen Choreografie auf der Nordtribüne verabschiedet.
Das war ein sehr besonderer Moment und auch ein perfektes Timing, dass ich als Co-Trainer bei den Profis dabei sein konnte. Es war ein richtig schöner Tag für sie und mich.
Wie sah Ihre Kindheit mit einem HSV-Fan als Mutter aus?
Ich bin als Kind oft ins Stadion mitgenommen worden und auch später zusammen mit meinem langjährigen ETV-Co-Trainer Jonas Struckmann, der jetzt den Grundlagenbereich beim HSV leitet, oft bei den Spielen gewesen. Ich hatte immer eine starke Verbindung zum HSV.
St. Pauli ist jetzt Ihr Konkurrent im Nachwuchs, gerade bei der Akquise von neuen Spielern. Hat der HSV neuerdings einen Nachteil, weil St. Pauli in der Bundesliga spielt?
Grundsätzlich gibt es genug gute Spieler für beide Vereine. Mit Benjamin Liedtke und Fabian Seeger hat St. Pauli zwei Verantwortliche, die ich schon lange kenne und schätze. Sie gehen jetzt einen anderen Weg und fokussieren sich im ersten Schritt stark auf die jüngeren Mannschaften. Das merkt man. In der U15 haben wir gerade deutlich verloren. Aber am Ende ist der Konkurrenzkampf gut für den Hamburger Fußball. Trotzdem wollen wir die Derbys gewinnen.
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St. Pauli hat vor einem Jahr im Zuge des Konzepts Rebellution angekündigt, im Nachwuchs nicht mehr mit Beratern zusammenzuarbeiten. Ist diese Idee auch beim HSV möglich?
Ich kenne die genauen Hintergründe nicht und kann nur für uns sprechen. Der Austausch mit den meisten Beratern ist hier gut. Meine Haltung ist, dass man immer gemeinsam im Sinne des Spielers versucht, einen Weg zu gehen. Natürlich gibt es auch Berater, bei denen man kritisch hinterfragen muss, ob sie für den Spieler gut sind. Auch dann kann man miteinander sprechen.