Hamburg. Der 84-Jährige erzielte 1963 gegen Münster das erste HSV-Tor in der Bundesliga. Ein Hausbesuch vor der Neuauflage.
Das Foto aus dem Jahr 1963 liegt noch keine Sekunde auf dem Terrassentisch, da weiß Gert „Charly“ Dörfel direkt Bescheid. „Preußen Münster“, sagt der 84-Jährige und lächelt. Er guckt auf das Bild, das ihn im Laufduell mit dem Münsteraner Heinz-Rüdiger Voß zeigt. Ein typisches Dörfel-Dribbling über Linksaußen. Im Hintergrund stehen die Menschen im alten Preußenstadion dicht gedrängt direkt hinter der Außenlinie. 38.000 Zuschauer waren dabei beim ersten Spiel des HSV in der neu gegründeten Bundesliga. Und das erste Bundesligator für die Hamburger zum 1:1-Ausgleich erzielte Charly Dörfel kurz vor Schluss.
61 Jahre später kann sich der HSV-Torschütze noch gut an diesen Moment erinnern. „Ich stand am zweiten Pfosten in Lauerstellung“, sagt Dörfel, dem etwas Historisches gelang. „Dieses Tor hat Geschichte geschrieben.“ Dörfel sitzt auf einem Sofa auf der Terrasse seines Hauses in Meckelfeld südlich von Hamburg.
Sein Alter macht ihm allmählich zu schaffen. Er kann keine großen Strecken mehr gehen. Die meiste Zeit verbringt er in seinem Haus mit seiner Frau Lidia, die ihm an diesem Vormittag Kaffee, selbstgebackene Kekse und Minicroissants serviert. Hier lebt der frühere Nationalspieler seit vielen Jahren. Und hier wird Dörfels HSV-Geschichte auf jedem Quadratmeter sichtbar.
HSV: Zu Besuch bei Charly Dörfel
Wenige Tage vor dem ersten Ligaspiel zwischen dem HSV und Preußen Münster seit der Saison 1963/64 hat Dörfel das Abendblatt zu Hause empfangen und gemeinsam eine Folge des Podcasts „HSV – wir müssen reden“ aufgenommen. Es ist nicht nur eine Erinnerung an das Traditionsduell gegen Münster, sondern auch eine Zeitreise durch die HSV-Geschichte.
Wer Dörfels Haus durch den Hintereingang betritt, geht direkt hinein in sein persönliches HSV-Museum. Die Wände sind tapeziert mit Zeitungsartikeln, Bildern und Fotos aus seinen HSV-Jahren, dekoriert mit Plakaten, Pokalen, Trikots und Büchern. „Ich habe das Museum eingerichtet, um die Vergangenheit darzustellen“, sagt Dörfel, der selbst ein wichtiger Teil dieser HSV-Vergangenheit ist. 1960 wurde er mit dem HSV Deutscher Meister, 1963 Pokalsieger. Zwischen 1958 und 1972 machte der Flügelstürmer 347 Spiele (114 Tore) für die Hamburger.
Dörfel ist einer von fünf Spielern aus der HSV-Startelf vom 24. August 1963, die noch leben. Torwart Horst Schnoor (90), Willi Giesemann (86), Fritz Boyens (81), Ernst Kreuz (83) und eben Charly Dörfel. Zuletzt starb Uwe Seeler vor zwei Jahren im Alter von 85 Jahren. „Man wird nachdenklich“, sagt Dörfel, wenn er an den Tod seiner ehemaligen Mitspieler denkt. „Aber das Leben läuft normal weiter. Ich genieße die Zeit, die ich noch habe.“
Charly Dörfel war wichtigste Partner von Uwe Seeler
Dörfel war in den 1960-er Jahren der wichtigste Partner von HSV-Idol Seeler. Flanke Dörfel, Tor Seeler -- so geschah es Woche für Woche, Jahr für Jahr. „Uwe und ich waren als Traumpaar bekannt. Auf dem Platz waren wir verheiratet, wie ein Ehepaar“, sagt Dörfel. Seeler hat alle Torrekorde in seiner HSV-Zeit gebrochen. Dörfel aber wird für immer der erste Bundesligatorschütze des HSV bleiben.
„Mein Tor war höchste Eisenbahn“, sagt Dörfel, als er an das Spiel gegen Münster denkt. Der HSV war der große Favorit, doch Münster kämpfte aufopferungsvoll und führte, ehe Dörfel nach einer Ecke kurz vor Schluss zuschlug. „Preußen Münster war ein hartnäckiger Gegner“, sagt Dörfel. So wird es auch an diesem Sonnabend sein, wenn der Aufsteiger in den ausverkauften Volkspark kommt. Das Team von Trainer Sascha Hildmann, das in der vergangenen Saison sensationell den Durchmarsch von der Regionalliga in die Zweite Liga geschafft hat, gilt wie schon 1963/64 als einer der ersten Abstiegskandidaten.
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Ansonsten hat der Fußball von damals nicht mehr viel zu tun mit dem Fußballgeschäft von heute. Und auch Typen wie Charly Dörfel wird es heute nicht mehr geben. Zu professionell ist der Fußball geworden, zu unprofessionell lebte Dörfel damals sein Leben auf dem Platz. Oder besser gesagt: Er beschäftigte sich mit zu vielen anderen Dingen. „Ich habe für die Unterhaltung gesorgt“, sagt Dörfel im Rückblick und untertreibt damit. Die HSV-Legende war der erste Clown im deutschen Fußball. Mit seinen Späßen und Sprüchen wurde Dörfel berühmt. In seinem Haus hängt eine Urkunde des Zirkus Roncalli, der ihn einst zum Ehrenclown ernannte.
Seine Art hat er sich auch mit 84 Jahren noch erhalten. Immer wieder macht er kleine Witze, sorgt für kleine Lacher, zeigt aber auch etwas Wehmut, wenn er auf sein Leben als Fußballer zurückblickt. Hätte Dörfel manchmal etwas mehr Ernsthaftigkeit an den Tag gelegt, hätte er auch in der Nationalmannschaft mehr als elf Spiele machen können. „Es wäre mehr möglich gewesen, wenn ich seriöser und sachlicher gewesen wäre. Aber das war einfach meine Art. Ich würde heute einige Sachen anders machen. Aber ich habe das Beste draus gemacht“, sagt Dörfel und lässt sich in seinem Privatmuseum in seinen Sessel fallen.
Charly Dörfel: Seine beeindruckende HSV-Reise
Hinter Dörfel steht eine lebensgroße Pappfigur von Elvis Presley. Dörfel war einer seiner größten Fans. Vor allem aber war er auch selbst ein großer Entertainer. An der Wand hängt ein Foto, das ihm auf einem Geländer an der berühmten Teufelsschlucht der Iguazu-Wasserfälle in Argentinien zeigt. Dorthin hatte er 1984 mit der Altliga des HSV eine Reise gemacht. Und mal eben direkt am Abgrund getanzt.
Dörfel konnte aber auch vernünftig sein. Das Geld, das er beim HSV verdiente, reichte nicht aus, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. „Wir haben mal einen Fuffi extra bekommen. Aber wir mussten alle noch arbeiten“, sagt der frühere Buchhalter, der hauptberuflich in der Holsten-Brauerei arbeitete. Nach der Arbeit ging es zum Training an den Rothenbaum. „Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich eine gute Lehre gemacht habe. Man hat mir das nicht zugetraut. Als Clown wird man ja oft nicht ernst genommen. Aber was so ein Clown alles möglich macht“, sagt Dörfel und lacht wieder so schelmisch, wie er das früher so oft getan hat.
Viele Erinnerungen sind in Dörfels Gedächtnis aber mittlerweile verblasst. „Die Zeit beim HSV wird verdrängt und ist abgeschlossen“, sagt Dörfel, der heute nicht mehr ins Volksparkstadion geht. Zu schwach ist er mittlerweile auf den Beinen. In der Geschichte des HSV aber wird er immer ein bedeutender Teil sein. „Ich freue mich immer, dass ich einer von denen war. Ich bin stolz, dass ich einer der Großen des HSV war.“ Einer der Größten, um es ganz genau zu sagen.